Was für ein Konzert! Was für ein unvergesslicher Abend! So hab ich zumindest gedacht als ich mich, mit meinem Döner in der Hand, auf den Weg nach Hause machte. Es gibt Abende an denen weiß man genau: Diesen Abend werde ich nicht so schnell vergessen. Karnivool, mein neuer Stern am Musikhimmel, haben im 59:1, einem kleinen Club in der Innenstadt gespielt. Alles hat gestimmt. Ein völlig abgerundeter Abend. Ich hatte ja keine Ahnung.
Es ist halb eins als ich an meine Haustüre komme. Scheiße – Schlüssel vergessen. Also in den sauren Apfel beißen und die Freundin aus dem Bett klingeln. Ist hart, aber was soll ich machen? Keiner geht ran. Also auf dem Festnetz versuchen. Das kann man nicht auf lautlos stellen. Wieder geht keiner ran. Mist was jetzt. Ich versuche es mit behutsamen Sturmklingeln, kombiniert mit wiederholten Versuchen jemand ans Telefon zu bekommen. Schließlich beschließe ich: es ist keiner zu Hause. Aber was jetzt? Es ist scheißkalt.
Meine Freundin mit dem zweiten Schlüssel ist sicher bei einer Studienkollegin und arbeitet. Das kommt schließlich öfter vor. Hab ich eine Nummer von irgendwem? Nichts. Ah! Facebook! Wozu habe ich den ein Smartphone? Also alle Freundinnen anschreiben, die in Frage kommen. Dann noch Email, SMS und eine Nachricht auf die Mailbox. Ich lasse nichts unversucht. Und jetzt? Warten was sonst bleibt mir übrig? Wie blöd kann man den eigentlich sein. Man geht doch nicht aus dem Haus ohne Schlüssel. Dass mir das so schnell nicht wieder passiert weiß ich jetzt schon. Es fängt an zu schneien.
Nachdem sich nach einer halben stunde nichts gerührt hat mache ich einen Rundgang um das Haus. Irgendeine Tür wird ja wohl offen sein. Die Tiefgarage, die Notausgänge oder der andere Eingang – alles zu. Verdammt ich kann nicht einmal in mein eigenes Haus einbrechen. Als nächstes versuche ich die Türe mit einer Karte aufzubrechen. Was hab ich denn da passendes im Geldbeutel? Meine Ikea -FamilyCard. Nicht sehr professionell aber wozu ist die Familie denn da, wenn nicht für Hilfe in solchen Situationen? Ich versuche die Tür zu öffnen aber alles was passiert: meine Familykarte zerbricht. Billiger Scheißclub. Nicht mal die Karten taugen zu was.
Ich beschließe dass hier wohl niemand mehr raus oder reinkommt und laufe los. 200 Meter weiter ist eine Spaarkasse. Na also, hier im Vorraum ist es wenigsten ein bisschen wärmer. Allerdings stinkt es hier nach Hundescheiße. Ich hebe – aus reiner Langeweile – ein bisschen Geld ab. Wenn ich doch schon mal hier bin. Außerdem rede ich mir ein dass ich mir durch die Gebühren ein Bleiberecht erkaufen kann.
Es ist mittlerweile zwei Uhr und mir wir der Hundescheißeraum mit seinem Neonlicht zu ungemütlich. Als ich wieder auf die Straße gehe sehe ich den Nachtbus kommen. Warum nicht einsteigen? Ich hab nichts besseres vor. Also fahre ich mit bis zur nächsten U-Bahnstation. Die ist inzwischen schon längst vergittert. Wie machen das nur die Obdachlosen? Irgendwo müssen die doch auch hin.
Ich mache mich zu Fuß wieder auf den Heimweg. Der Schnee hat mittlerweile eine gute Höhe erreicht und so sind meine Spuren die einzigen Lebenszeichen hier. Zu der Kälte kommt nun auch der Wind. Ich bin müde und habe mittlerweile keine Lust mehr auf das Scheiß Spiel. Ich will einfach nur ins Warme.
Ich versuche es spontan beim Hotel auf der anderen Straßenseite. Hinter den Fenstern sehe ich einen künstlichen Kamin und große Sessel. Genau das was jemand in meiner Situation jetzt brauchen kann. Doch die Frau am Nachtschalter will mich nicht einlassen. Selbst meine Geschichte, die Bitte nur eine halbe Stunde auf einen Anruf zu warten oder das Angebot ein überteuertes Getränk zu bestellen lassen die Wächterin des Paradises ziemlich unbeeindruckt. Sie meint: „Das Hotel sei keine Bahnhofsmission.“ Arrogante Kuh! Ich bin doch kein Obdachloser – Nun ja eigentlich schon im Moment. Aber nur wegen deinem Namensschild und deinem hässlich Halstuch bist du nichts besseres. Wo ist die Liebe nur in dieser Stadt? Ich komme mir vor wie Josef und Maria vor dem Gasthaus: Ausgestoßen.
Losheulen, das könnte ich jetzt. Mir ist kalt, ich bin müde und ich bin von der Gesellschaft ausgeschlossen. Zumindest komme ich mir so vor. Ich geh wieder vor die Haustüre. Irgendwann müssen die Leute ja wieder aus dem Haus. Immerhin ist heute Freitag. Und Freitag ist ein ganz normaler Arbeitstag. Wenigstens ins Treppenhaus möchte ich es schaffen. Ich setze mich vor die Türe und schaue auf die Uhr: Halb vier.
Der Boden ist kalt und darum denke ich dass eine Unterlage nicht schlecht wäre. Spontan breche ich ins Müllhaus ein um mir drei Stapel Zeitung zu holen. Ich nehme einem Stapel um mich darauf zu setzen. Die anderen Beiden stopfe ich mir unter die Kleidung. Das habe ich mal im Fernsehen aufgeschnappt. Soll noch einmal jemand behaupten dass Fernsehen nicht bildet. Ich kann sagen: Es hilft tatsächlich. Mir wir ein wenig wärmer.
Da plötzlich: Das Licht im Treppenhaus geht an. Schnell aufstehen und beschäftigt aussehen. Ich lege mir eine Geschichte zurecht, die mich nicht wie ein Penner, der ich im Moment ja bin, aussehen lässt. Nach einer Minute geht das Licht wieder aus ohne das jemand zur Haustüre kommt. Mist! Der Frühaufsteher ist bestimmt, mit dem Lift, in die Tiefgarage gefahren, wenn ich mich beeile schaff ich es noch durch das Garagentor, kombiniere ich haarscharf. Ich laufe los. Mein Hintern raschelt von der Zeitung und ich muss mir die Hose festhalten weil ich meinen Gürtel nicht enger machen konnte. Bei der Garage angekommen finde ich nur ein verschlossenes Tor und Reifenspuren im frischen Schnee. Fuck!
Also mache ich mich, als Michelin-Männchen verkleidet, wieder auf den weg zur Haustüre. Es rührt sich wieder lange nichts. Wo sind den die ganzen Leute die Arbeiten müssen. Ich denke da speziell an diejenige Nachbarin die sich sonst immer beschwert, sie müsse morgen arbeiten, wenn ich mich abends auf dem Balkon unterhalte. Jetzt hab ich sie durchschaut. Lehre Worte und sonst nichts.
Auf dem Stapel Zeitungen finde ich eine Werbung für Heizdecken. Meine Verzweiflung ist mittlerweile einer albernen Hysterie gewichen. Ich könnte nicht mehr heulen sondern nur noch lachen. Die ganze Situation ist so dermaßen unwirklich und seltsam das ich mir mittlerweile nicht mehr sicher bin ob ich nicht schon längst im Bett liege. Also setzte ich mich wieder vor die Türe, ziehe meine Bein eng an den Körper und warte ab.
Um halb 5 kommt meine Freundin nach hause. Sie hat so großes Mitleid mit mir das ich mich sofort wieder geliebt fühle. Es gibt sie doch noch – Die Liebe. Ich hatte sie schon verloren geglaubt doch jetzt habe ich sie wieder gefunden! Als ich zu guter letzt meine Michelin-Verkleidung abgelegt und mich in die warme Badewanne gelegt habe fühle ich mich nur noch wohl. Ich beschließe dass diese Nacht doch noch ein glückliches Ende genommen hat. Ich habe meine erste Nacht auf der Straße überstanden.