Ich will alles – immer – gleichzeitig

Dieser Text ist noch eine Nachgeburt von meiner Radtour im September. Den Bericht heritzu gibt es hier zu lesen.

Ursprünglich wollte ich mit dem Fahrrad von Berlin nach München fahren. 700 Kilometer in einer Woche. Das klingt für die meisten erstmal nach viel.  Andererseits fahren andere das in einem Rutsch durch. Das sind Verrückte.

Stattdessen will ich es etwas ruhiger angehen lassen. Mir Zeit lassen. Ich bin nicht verrückt. Glaube ich.

Ich will einerseits natürlich schon ganz viele Kilometer fahren, klar. Aber ich will es auch langsam angehen. Die Zeit genießen.

Ich will schon den ganzen Tag auf dem Rad sitzen. Treten, dass die Landschaft nur so vorbei zieht, dass ich mich am Ende des Tages wundere, wie ich so weit gekommen bin. Das liebe ich ja. Und gleichzeitig habe ich auch meine Malsachen und meine Kamera dabei. Ich will gerne mal ein oder zwei Skizzen machen. Die Landschaft und die fremden Orte fotografieren. Meine Wahrnehmung trainieren. Achtsam sein.

Ich habe Lust mich so richtig auszupowern. Am Ende des Tages so erschöpft zu sein, dass mir die Augen zufallen, sobald ich auf der Isomatte liege und mir alles weh tut, wenn ich versuche, mich umzudrehen. Diese tiefe Erschöpfung nach einem langen Tag auf dem Rad kann auch etwas sehr schönes sein. 

Ich habe aber auch mein Buch dabei. Mal wieder Zeit zum Lesen haben. Mit einer Romanfigur den Abend langsam ausklingen lassen. Ich will mal wieder in den Morgenstunden aufstehen und vor Sonnenaufgang schon auf dem Rad sitzen. Ich will endlich mal ausschlafen.Ich will bis spät in die Nacht fahren. Bis mir die Augen schwer werden. Ich will auch ein oder drei gemütliche Feierabendbiere beim Sonnenuntergang genießen.

Ich will alles – immer – zur gleichen Zeit.

Spoiler: Das hat nicht geklappt. Wie sollte es auch? 

Als ich nach einigen Stunden die erste große Etappe hinter mich gebracht hatte, habe ich festgestellt, dass ich ja noch gar nicht richtig irgendwo verweilt habe. Mein Skizzenbuch blieb bisher unberührt. Da muss sich was ändern.

Als ich nach einer ausgedehnten Mittagspause am See, nach Kaffee, Nickerchen und Pommes auf die Uhr blicke, zucke ich zusammen. In den letzten zwei Stunden hätte ich auch 30 Kilometer weiter kommen können. Schnell wieder weiter. Nur Durchballern fühlt sich nicht richtig an. Pause machen aber auch nicht.

In diesem Konflikt befinde ich mich abwechselnd für zwei Tage. Ich will Gas geben. Ich will Müssiggang.  Ich will alles – immer – zur gleichen Zeit.

Am dritten Tag setze ich meinem inneren Dauerstreit ein Ende. Ich entscheide mich für eine Seite und beschließe meine Pläne bis nach München zu fahren, über den Haufen zu werfen. Die vielleicht beste Entscheidung meiner Radfahrerlaufbahn.

Ich ignoriere ab sofort den Kilometerstand und fahre einfach nach Lust und Laune in die Landschaft. Wo es mir gefällt, da bleibe ich. Dort, wo es gut rollt, rolle ich. 

Das Geheize bringt überhaupt nichts. Niemand interessiert es, wie viele Kilometer ich am Stück runterballer. Niemand interessiert es, ob ich 10 Minuten oder 3 Stunden Pause mache.  Nicht einmal mich sollte es interessieren. Noch nie hat jemand zu mir etwas gesagt wie: „Da hast du aber ganz schon viel Pause gemacht, oder? Ist das noch Rad fahren oder ist das schon Wellnessurlaub?” Woher kommt dieser absurde, selbstgemachte Drang, sich so dermaßen viel vorzunehmen?

Ich bin in erster Linie hier, um Freude zu haben. Freude habe ich zur Zeit nun mal nicht, indem ich eine möglichst krasse Kilometerstatistik abliefere. Wem überhaupt? Die Qualität einer Radreise hat nichts – wirklich gar nichts – mit den gefahrenen Kilometern oder den im Sattel verbrachten Stunden zu tun. 

Warum schreibe ich das alles auf? Ist das nicht sowieso logisch? Jein. 

An meiner Art Rad zu fahren, lässt sich sehr leicht meine Art meinen Alltag zu leben ablesen. Ich will alles – immer – zur gleichen Zeit.

Ich bin Sozialarbeiter von Beruf. Ich betreibe nebenbei ein kleines Geschäft, in dem ich Taschen nähe und verkaufe. Ich organisiere und benutze fleißig eine kleine Gemeinschaftswerkstatt für Fahrrad und Holzarbeiten. Ich schreibe Texte für Lesebühnen und meinen Blog. Ich renoviere und vermiete eine Wohnung in Augsburg. Ich habe einen Freundeskreis. Ich habe eine Partnerin. Ich mache gerne Fotos und Skizzen. Musik würde ich auch gern mehr machen. Auf dem Rad sitze ich für meinen Geschmack viel zu wenig. Und mehr Lesen will ich auch. Und gute Filme schauen. Und Videospiele zocken.  Ich will alles – immer – zur gleichen Zeit.

Und gut will ich es auch machen.

Wenn ich es schaffe, meine Pläne auf meiner Radreise umzuwerfen. Vielleicht besteht dann auch die Hoffnung es in meinem Alltag  ruhiger angehen zu lassen. Da fragt ja auch keiner nach, ob ich auch ja richtig krass abliefere.

Oder?

Ein Gedanke zu „Ich will alles – immer – gleichzeitig

  1. Dieser ehrliche Text spricht eine verbreitete Herausforderung unserer Zeit an: das Verlangen, alles gleichzeitig zu wollen. Die ständige Balance zwischen verschiedenen Interessen und Verpflichtungen ist ein bekanntes Thema, sei es auf einer Radtour oder im Alltag. Die Erkenntnis, dass man nicht alles auf einmal tun kann, ist ein wichtiger Schritt, um sich selbst nicht zu überfordern und Freude in den Aktivitäten zu finden. Es erfordert Mut, Pläne umzuwerfen und den eigenen Bedürfnissen Raum zu geben. Letztendlich geht es darum, das Leben bewusst zu gestalten und sich nicht von einem selbstgemachten Druck treiben zu lassen.

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