Diese Tage geht es bei mir um die Bedeutung der Konsequenzen des digitalen Fortschritts. Digital ist besser. Ist das wahr?
Teil 2. Die Verfügbarkeit macht mich unverfügbar
Das Netzt ist voll. Voll mit Sachen die gehört und gesehen werden wollen. Ich bin einfach gesagt: überfordert. Ich komme nicht zurecht mit der Masse der Möglichkeiten meiner Unterhaltung.
Wir unterhalten uns quasi pausenlos. Unsere Unterhaltung wird somit zur Beschäftigung nebenbei. Unterhaltung benötigt nicht länger unsere volle Aufmerksamkeit sondern nur noch ein gelegentliches Hinsehen oder Hören. Unser Geist stumpft ab, kann sich immer schlechter konzentrieren und unsere Frustrationstoleranz schrumpft täglich. Wir meinen wir bräuchten unsere Unterhaltung der Wahl, am besten sofort. Ist kein Laptop in der Nähe wird schnell das smartphone zur Hilfe genommen. Ist das sofort ein Argument wenn wir den bestimmten clip umbedingt JETZT herzeigen, die bestimmte Information JETZT nachgooglen müssen. Wir können nicht mehr ohne den allzeitigen Zugriff auf den Inhalt unsere Wahl.
So richtig bei der Sache sind wir dabei nie. Wann habe ich das letzte mal eine Serie angesehen und nichts anderes währenddessen gemacht? Nichts verdient mehr unsere volle Aufmerksamkeit. Wir essen, chaten und glotzten zur gleichen Zeit. Vieles buhlt gleichzeitig um unsere Aufmerksamkeit – daher konsumieren wir eben auch vieles gleichzeitig aber eben nicht so richtig. Dabei kommt auch noch alles aus dem selben Bildschirm, wie sollen wir da auch unterscheiden?
Sind wir überhabt noch in der Lage eine Sache nach der anderen zu machen? Gehört ständige der Wechsel zwischen unseren Aktivitäten – die Unstetigkeit – jetzt zu unserem Lebensrhythmus? Es fällt mir ja schon schwer das Geschirr an einem Stück abzuspülen. Immerzu blinkt und tönt etwas, was meine Aufmerksamkeit und meinen Gehorsam fordert: SMS und mails wollen unmittelbar gelesen und beantwortet, facebook alle halbe Stunde gecheckt und das Musikalbum im Hintergrund neu ausgewählt werden. Meine Geräte haben mich voll im Griff. Fragt sich wer jetzt für wen gemacht worden ist.
Die ständige Verfügbarkeit aller kulturellen Inhalte dieser Welt hat einen Preis: Sie ist nichts besonderes mehr. Wir bringen wenigen Dingen noch die Wertschätzung entgegen die sie verdient hätten. Früher ging man noch ins Kino um einen stream – äh, ich meine Film – zu sehen oder setzte sich zusammen um den Plattenspieler. Ich habe als Junge unzählige Stunden damit verbracht mir das perfekte Mixtape zusammenzustellen. Dieses Tape habe ich dann auch bewusst gehört, jedes Lied habe ich abgefeiert und wurde meiner damaligen Lieblingslieder nicht müde. Ich brauchte keine Beschäftigung nebenbei und erst recht war Musikhören keine Nebenbeschäftigung. Diese Begeisterung für ein Medium, für eine Beschäftigung für meine Lieblingsmusik wünsche ich mir zurück. Was nützt mir der Pool aus Klang- und Bilderfluten, wenn ich keine Badehose dabei habe und eigentlich Bergsteigen gehen wollte?
Teil 3: Wer saugt muss auch den Beutel ausleeren
Wer soll all diese Filme ansehen und all diese Blogs lesen? Wir haben die Vorstellung wir müssten so viel wie möglich der guten Musik in uns aufsaugen. Wir haben immer Angst eines der vielen Perlen zu übersehen, die an uns vorbei gespült werden. Ich sage euch etwas für dessen Erkenntnis man nicht besonders schlau sein muss: Es ist nicht möglich nichts zu verpassen.
Ich selber habe gerade ein Projekt am laufen bei dem ich meine Musik, die ich auf dem Rechner habe -also nicht einmal Musik im Internet – komplett von A-Z durchzuhören. Überspringen ist dabei nicht erlaubt. Ich muss dabei betonen: Ich hab (so würde ich behaupten) keine Musik auf dem Rechner die in meinen Ohren schlecht ist. Meine Mediathek wurde immer wieder sorgfältig ausgemistet. Mittlerweile sitze ich seid Juni letzten Jahres an diesem Projekt und noch immer habe ich mich nicht durchgehört. Es ist nämlich unglaublich anstrengend. Es ist anstrengend und es zieht sich. Ich bin das bewusste Hören nicht mehr gewohnt. Wir wollen immer nur sammeln und aufsaugen aber wollen wir auch hören?
Liegt es daran, dass ich nicht mehr als ein bestimmtes Pensum an einem Tag schaffe, mir die Zeit zum aufmerksamen Hören fehlt oder daran dass es unglaublich schwierig ist die Menge der Lieder wie die meinige zu bändigen?
Die größte Herausforderung bei meinem Projekt ist jedoch eine andere: Das Gefühl das ich habe, es immer gäbe immer ein Lied, eine Band, die jetzt besser zur Situation, zur Stimmung, zum Tag passen würde. Ich habe immer all die anderen Lieder im Hinterkopf die ich jetzt nicht hören kann, die aber doch da sind und angehört werden wollen.
Selten ist ein Lied das perfekte für den jeweils jetzigen Moment. Aber das macht nichts. Denn so sehr mich mein Unternehmen auch anstrengt und mein Hörverhalten auf den Kopf stellt: Ich fange wieder an bewusst hinzuhören. Und das lohnt sich sehr oft.
Teil 4. Für Glück gibt es keinen Stream
Wenn die Musik, die Literatur und die Filme in unserem Besitz oder unserem Radius also ihren Wert verloren haben. Wenn also die Verfügbarkeit des perfekten Liedes für jede Minute nur dazu führt, dass wir uns an nichts mehr erfreuen können, was ist dann das was noch überhaupt noch zählt?
Es sind die Momente. Die real erlebten, die ungeplanten und einzigartigen Augenblicke. Was zählt ist ein Konzert, eine live Lesung, eine Ausstellung von Fotos oder gute Gespräche mit echten Menschen, bei denen ich im Gegensatz zum geladenen Interview oder zum gestreamten Livemitschnitt tatsächlich Teilhaber bin. Situationen in denen ich durch meine körperliche Anwesenheit, Mittgestallter und nicht nicht nur Zuschauer bin.
Diese Erlebnisse, in denen mein Herz spürbar schlägt, ich vom Mitsingen und tanzen schwitze und meine Stimme versagt. Die real erlebte und real erlittene Bergtour statt der „packenden“ Extremsportdokumentation. Die Erlebnisse an die ich mich erinnern werde, auch wenn es davon kein digitales Fotoalbum oder einen stream geben wird.
Denn: Ich atme, schwitze, lache, kotze, und schlafe immer noch analog
Ein Gedanke zu „Ich atme immer noch analog II“