TAG 1
Weil ich so ein viel interessierter Mensch bin, bin ich auch viel beschäftigt. Zwischendurch zur Ruhe zu kommen ist meine größte Herausforderung. Weil das so ist, verabreiche ich mir drei Tage Fahrrad fahren. Ich nenne es Fahrradthearpie.
Es ist August und ich befinde mich in einer seltenen Glücks Position mit drei aufeinanderfolgenden freien Tagen. Dass ich auch unter der Woche mal länger frei habe, passiert öfter, dass ich diese Tage auf dem Rad verbringe, dagegen viel zu selten. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich spüre das dringende Bedürfnis, aus der Stadt herauszukommen, die Natur zu genießen und meine Beine wieder in Bewegung zu setzen.
Der Plan..
…lautet wie folgt: Mit dem Zug raus aus dem Stadtgebiet, dann drei Tage gemütlich in Richtung Garmisch. Dort steht übermorgen Abend eine Einladung zum Geburtstagsessen aus. Biwak und Schlafsack sind eingepackt. Sogar das zusätzliche Gewicht für den Gaskocher gönne ich mir. Kaffeezeremonien sollen ja auch entschleunigen.
Zusammengerechnet sind zweihundert und ein paar mehr Kilometer auf der Karte. Nicht zu viel aber auch nicht zu wenig Vorhaben für drei Tage. Sommerliches Wetter ist prophezeit. Das leichte Gepäck hängt an meiner Raupe. Letzterer habe ich sogar einen neuen Antrieb samt besserer Kurbel und Schaltung verpasst. Bock hab ich auch.
1. Tag
Den Zug nach Mühldorf am Inn verpasse ich dank längerem Ausschlafen und allgemein unterdrückter Hetzerei. Denn ich will bei dieser Tour nicht nur Kilometer abreißen, sondern auch bewusst innehalten. Mein Gepäck beinhaltet meine analoge Kamera und mein Skizzenbuch. Ich will die Umgebung in mich aufnehmen, Fotos mit meiner Analogkamera machen, zeichnen und Kaffee an schönen Orten trinken.Mit dem groben Ziel, Garmisch zu erreichen, starte ich eine Zugfahrt von München entfernt in Mühldorf. Trotz leerem Bauch fange ich gleich an zu treten. Ich will meine Tour nicht mit einer Pause beginnen. Wenigstens für ein paar Kilometer starte ich in die Feiertagslandschaft. Nach einer gefühlten Stunde erreiche ich das Bräu im Moos. Nett hier. Hunger habe ich sowieso schon länger.
Die Begegnung mit einer Seniorin im Biergarten erweist sich als unterhaltsam. Als Ella stellt sich eine Dame vor und sofort klar, dass sie mit ihrem E-Bike viel schneller ist als ich. Sie habe mich schon vorher überholt.
Ihre direkte Art fasziniert mich und ich setze mich zu ihr an den Tisch. Sie erzählt mir ihre frische Lebensgeschichte – eine Geschichte von Scheidung und Neubeginn. Von ihren Söhnen und ihren Geschwistern. Sie hört nicht auf zu erzählen, und das ist in Ordnung für mich. Zuhören ist manchmal besser als Reden, besonders wenn man währenddessen Käsespätzle isst.
Die Hitze macht träge und so schaffe ich es erst nach zwei Stunden wieder auf den Sattel. Dabei sollte ich ja eigentlich die Stunden vor dem angekündigten abendlichen Gewitter ausnutzen, wenn ich noch ein wenig im Trockenen fahren möchte.
Meine Wegstrecke könnte schöner kaum sein. Ohne Autoverkehr komme ich direkt an der Alz in den Genuss von feinsten Waldwegen. Bei Altenmarkt tummeln sich jubelnd und gröhlend unzählige Menschen im Wasser. Bei der Temperatur das einzig Vernünftige was zu tun ist. Ich will noch ein bisschen weiter. Auch wenn mich die Abkühlung schon sehr reizen würde.
Das Wetter verschlechtert sich, und das besagte Gewitter zieht herauf. Von einem auf den anderen Moment ist der Himmel drei Graustufen finsterer. Der erste Regen setzt ein, während ich durch das bucklige Chiemgau fahre. Ich erreiche gerade rechtzeitig Chieming am Chiemsee, bevor das Unwetter einsetzt. Und wie es einsetzt. Das Gasthaus, das ich ansteuere, ist ausreserviert, aber ich finde Unterschlupf im überdachten Teil des Biergartens, während um mich herum die Welt unterzugehen droht.
Irgendwann wird doch ein Tisch frei. Während des Wartens hole ich mein Skizzenbuch hervor und zeichne eine Aufnahme ab, die ich unterwegs gemacht habe. Die Kombination aus Zeichnen und Verweilen erfüllt mich mit Zufriedenheit. So hatte ich mir das vorgestellt. Was ich bis dahin noch nicht weiß ist, dass ist dies meine erste und letzte Aquarellzeichnung auf diesen Trip werden wird.
Draußen geht die Welt dann doch nicht unter und so setze ich meine Reise fort. Mein Blick schweift umher auf der Suche nach einem geeigneten und vor allem trockenen Übernachtungsplatz. Zwar habe ich ein Tarp dabei, aber ein richtiges Dach und einen trockenen Boden würde ich auf jeden Fall bevorzugen. Der wieder stärker gewordene Regen spült mich von oben bis unten durch und ich bin heilfroh, meine gute Regenjacke eingepackt zu haben. Ohne die würde das ganze wohl weniger Spaß machen. Das Wasser, das von den Pfützen nach oben spritzt, ist warm und auch sonst denke ich mir, es könnte sehr viel unangenehmer sein, im Regen Rad zu fahren. Schön so ein Sommerregen.
Meine Suche nach einem Übernachtungsplatz zieht sich noch eine Stunde lang. Sämtliche Brücken sind unterspült oder dermaßen unromantisch, dass ich hier nur im absoluten Notfall meinen Schlafsack ausrollen würde.
Gerade als ich mir überlege, ob der Tag wohl zu einem guten Ende finden wird, fahre ich einen Hügel nach oben und ärgere mich über meine leeren Trinkflaschen. Da hört es unverhofft auf zu regnen und die Abendsonne drückt vom Horizont ihr warmes Abendrot in die Landschaft. Plötzlich stehe ich in einer Traumkulisse. Das sind also die Momente, warum es sich lohnt, die Wohnung zu verlassen. Was für ein schöner Augenblick.
Auch meine Schlafplatzsuche findet einen Abschluss: Letztendlich finde ich einen alten Torfbahnhof, der mir ein Dach über dem Kopf und trockenem Boden bietet – genau das, was ich nach dem Regen brauche.
Das Einschlafen klappt so gut, wie es in einem Biwak eben klappen kann. Mein Körper ist zwar müde, aber mein Kopf ist viel zu aufgedreht, immerhin habe ich so viele Eindrücke zu verarbeiten: die Zugfahrt, die Lebensgeschichte von Ella, die Landschaft, die Hitze, das Gewitter und der Sonnenuntergang. All das kommt mir jetzt vor wie eine Woche. Dass irgendein Tier auf dem Dach herum trampelt, macht das Einschlafen nicht leichter. Irgendwann verabschiede ich mich in einen unregelmäßigen Schlaf.
2. Tag
Früh eingeschlafen – früh aufgewacht Noch in der Morgendämmerung packe ich meine Sachen und muss mich bezüglich meinem Restwasser, das ich über Nacht von der Regenrinne abgefangen habe entscheiden, ob es Müsli oder Kaffee gibt oder ich meine Zähne putze. Auf letzteres kann ich auch erstmal verzichten und ich entscheide mich für das Essen.
Heute ist kein Feiertag mehr. Das heißt, die Geschäfte haben wieder offen, was sehr gut ist , denn ich habe ein paar Besorgungen zu machen, bevor es richtig losgeht. Außerdem könnte ich mir das andauernde Einkehren auf Dauer nicht leisten. Ich muss zum Drogeriemarkt und außerdem zu einer Fahrradwerkstatt. Meine neue Kurbel hat Spiel und knirscht. Mich daran zu gewöhnen, ist mir gestern schon nicht gelungen. Ich muss dringend an ein Spezialwerkzeug ran, ansonsten raubt mir das Gewackel und Knacken meinen Verstand. Das habe ich eben davon, wenn ich meine Räder alle selbst bauen muss. Irgendwas ist immer.
Zum nächsten Ort Bernau sind es nur ein paar Minuten. Ich warte bis der Drogeriemarkt eröffnet und überbrücke die Zeit damit, Bargeld abzuheben. Das braucht man eh immer. Als ich einen Einheimischen frage ob man hier irgendwo gut frühstücken könne empfiehlt er mir eine Bäckerei und berichtet außerdem ungefragt wie viele Kilometer er im Jahr Rad fährt, dass Sie sich beim letzten Radurlaub für einen Begleitfahrzeug entschieden hatten und dann wünscht er mir eine gute Reise und zieht ab. Da hatte wohl jemand Redebedarf.
Bei dm finde ich feuchte Taschentücher, Batterien für die Kamera, Wasser das nicht aus der Regenrinne kommt und meine Creme für den Po. Solange Bepanthen noch keine Fahrradhosen herstellt, muss ich eben selbst schmieren. Auch der Besuch im Radladen gestaltet sich als äußerst unkompliziert. Als ich fragte, ob ich einen 10er Imbus und einen Tretlagerschlüssel ausleihen könne, drückt mir der Verkäufer beides lächelnd in die Hand und stellt keine weiteren Fragen. 15 Minuten später läuft die Raupe wieder so wie sie laufen soll. Das wäre auch erledigt. Ich brauche also nur noch den ausgelassenen Kaffee. Den gibt es in der italienischen Eisdiele.
Genug getrödelt. Ich muss irgendwann auch mal los.
Wobei wollte ich das eigentlich nicht genau so? Herumtrödeln?
So richtig geht mein Plan zur Entschleunigung nicht auf.
Nach ein paar Kilometern merke ich anhand meiner durch den Autoverkehr gereizten Stimmung, dass ich dringend mehr Essen muss. Das ist immer so ein Zeichen. Also Einfall in den Supermarkt mit anschließendem romantischen Lunch auf dem Penny Parkplatz. Das Gefühl, heute noch kaum vorangekommen zu sein, überwiegt den Plänen zur Entschleunigung und so sitze ich gleich wieder auf dem Rad.
Ist ja auch prächtig hier, Jetzt wo ich wieder von der Hauptstrasse weg bin. Ein Rennradler tippt mir auf die Schulter. Ob ich ein Werkzeug für ihn hätte. Nur wenn er mich nicht aufhalten würde. “Ich habe alle Zeit der Welt.” behaupte ich und merke gleichzeitig, wie unehrlich sich dieser Satz anfühlt.
Auch die kommenden Stunden verbringen viel mehr Zeit auf dem Rad als geplant. Auch die Hitze lässt nichts anderes zu. Sobald der kühlende Fahrtwind ausbleibt knallen 30 Grad auf den Kreislauf. Was soll ich in der Hitze auch abwarten? Kann ich auch gleich weiterfahren.
Auf der Passstrasse das Sudelfeld hinauf gesellen sich zur Hitze auch die Höhenmeter. Schieben ist keine Schande. An einer Kurve eine Badestelle. Ich muss nicht lange überlegen. Gebirgsbach ahoi.
Die nächsten Stunden kämpfe ich mich weiter, das Sudelfeld hoch. Ach war das schön, als ich noch in Topform war. Mehr schiebend als fahrend erinnere ich mich regelmäßig an die Tatsache, dass die Gegend schön ist. Ist sie nämlich- Hitze hin oder her. Leider verpasse ich bei einer kurzen Abfahrt eine wichtige Abzweigung, so dass ich für die letzten Meter nach ganz oben die stark befahrene Passstraße nehmen muss. Ich ärgere mich über meine Unaufmerksamkeit und noch mehr über die Autos, die mich knapper und lautstärker nicht überholen könnten. All das zehrt an meinen Nerven. Beim Parkplatz Kiosk denke ich nicht lange darüber nach, ob es einen gemütlichen Platz geben könnte (gibt es 200 Meter weiter) und freue mich über die Versorgung von frischen Zucker und salzigen Pommes.
Rechtzeitig zur Abfahrt finde ich die Forststraße wieder. Auf dieser bretter ich entschädigt runter nach Bayrischzell. Wer bergauf fährt, darf auch bergab fahren. So lasse ich den Sudelfeldpass hinter mir.
Im Tal schafft die tiefe Nachmittagssonne eine tolle Stimmung. Alles riecht nach Spätsommer. In Bayrischzell muss ich im REWE eine Powerbank kaufen, auch wenn ich hiervon wahrscheinlich vier Stück zuhause liegen habe. Anders geht es nicht, denn das riesige Akkupack von meinem Scheinwerfer hätte zwar genug Saft für eine Woche, doch leider verträgt er sich nicht mit meinem Handy. Hätte ich das mal vorher getestet. Hätte hätte…
Immer häufiger merke ich, dass es mich immer weniger stark weiterzieht. Ich spüre meine müden Glieder und vor Anstrengung drückt mein Kopf. Ich hab das Gefühl richtig leer gefahren zu sein.
Am Wegweiser Schild “Richtung Bahnhof” am Schliersee packt mich akutes Heimweh. Von einem Moment auf den nächsten erscheint mir die Vorstellung, einen weiteren langen Tag auf dem Sattel zu verbringen, überhaupt nicht mehr verlockend. Mir reicht es für heute. Für die ganze Woche. Ich rufe bei meiner Freundin an, um mir das bestätigen zu lassen, was ich hören will. Es ab hier sein zu lassen ist eine gute Idee.
Am Badestrand kaufe ich mir ein Bier und erfrische mich im Schliersee. Zum Bahnhof ist es nicht mehr weit.
Heimfahrt.
Wie jedes Mal, wenn ich eine Tour früher als geplant beendet habe, denke ich anschließend über meine Entscheidung. Schließlich fühlt sich Abzukürzen ein bisschen nach Aufgeben an. Ist meine Fahrrad-Therapie gescheitert?
Vor allem ärgere ich mich darüber, wie wenig es mir gelungen ist, mich zu entschleunigen. Wie ich kaum irgendwo verweilt habe. Womöglich hätte ich es länger Durchgezogen wenn ich mit meiner Kraft besser gehaushaltet hätte. Eine einzige Skizze habe ich gemacht. Als ich im Wirtshaus auf ein Essen gewartet habe.
Wie ist es mir möglich, eine Tour im Urlaubsmodus zu fahren, ohne dabei zu überpacen? Ich frage mich wirklich, wie das gehen soll.
Ist eine Radtour nur dann erfolgreich, wenn mindestens zwei Bilder und zehn Fotos am Tag entstehen? Was macht die Qualität eines Erlebnisses aus?
Ich stelle fest: Ich war die letzten Tage kaum im bewussten jetzigen Moment. Dabei ist das doch der Kern einer Radtour, oder? Mit meinen Gedanken bin ich beim nächsten Essen. Hinter dem nächsten Hügel, bei meinem nächsten Schlafplatz, heute Nacht oder der dringenden Abkühlung. Fast nie war ich einfach “da”. Einfach auf dem Rad.
Zwar ist mein Versuch auf die Bremse zu drücken irgendwie gescheitert. Andererseits irdgendwie auch nicht. Immerhin bin ich um eine wertvolle Erkenntnis reicher. Wer auf die Bremse drücken will muss auf die Bremse drücken. Von alleine passiert das nicht. Ein Rad fährt so lange bis man es anhält.
Zu guter Letzt habe ich die Ausfahrt auch als Testfahrt verstanden. In ein Paar Wochen geht es auf große Fahrt von Berlin nach München. Mal sehen ob mit dann mehr Achtsamkeit gelingt.
P.S.: Danke Jonas fürs Gegenlesen!
Auch faulenzen will gelernt sein und Pläne sind dafür da, umgeworfen zu werden. So what?
Was ist eigentlich mit Deiner Kamera? Die Fotos haben alle so Schlieren? Objektiv dreckig?
Hey Tom! Danke fürs Lesen und Kommetieren. Das Objektiv war gerade am Ende tatsächlich ziemlich schweißvermiert. ICh finde das gehört irgednwie dazu.