Nur Schieben ist schöner

Meine großmäulige Verkündigung meiner Herbsttour auf Instagram machte einige Leute neugierig. Doch meine breite fotografische Dokumentation brach abrupt ab, da alles eher so halb fertig war. Und dass dieser Tourbericht lange halb fertig geschrieben auf der Festplatte lag, passt ebenso gut zur Tour selbst. Diese bin ich nämlich auch nur halb gefahren, da ich selbst nämlich ziemlich fertig war. Doch beginnen wir, wie es sich gehört, von vorne …

Es ist September. Ich habe eine Woche frei. Davon vier Tage mit super Wettervorhersage. Das Ticket nach Würzburg lag dank Corona-Gutschein von der Bahn sowieso noch in der Schublade. Da die Strecke von Würzburg nach München mit etwa 300 Kilometern ein bisschen kurz für vier Tage ist, habe ich auf die Schnelle noch eine Schleife über Regensburg zusammengeklickt. Und um zu vermeiden, dass ich aus Mangel an Ortskenntnis nur die öden Strecken vor die Reifen bekomme, frage ich in meiner Kontaktliste nach den „Local Hotspots“. Tilmann und Alexander gaben mir dabei herausragende Ratschläge, damit man die schönen Ecken nicht verpasst.

Tag 1

Drei Nächte lang Zeit und 400 Kilometer auf der Karte. Wunderbar. Vorweg sei aber gesagt: So richtig rund lief sie nicht, meine letzte „große“ Tour des Jahres. Es begann schon mit der Anreise. Der geplante Zug fällt aus. Eine Stunde warten auf den nächsten. Der hat keine Fahrradstellplätze mehr frei. Alles ist voll mit e-Bikes und deren Benutzergruppen. Ich werde also hinauskomplimentiert.

Nächster Zug in eineinhalb Stunden. Ich versuche mir die Laune nicht verderben zu lassen. Ich habe immerhin Urlaub. Mein Plan-C-Zug hat eine halbe Stunde Verspätung und eigentlich auch keinen Stellplatz mehr frei für mein Rad. Erst als ich mich in meinen Frust hineinsteigere und einen Weinanfall vortäusche, winkt der Schaffner ab und stellt sich blind. Ich darf mitfahren. Endlich. Vier Stunden später als geplant komme ich um 17 Uhr in Würzburg an. Eine holprige Anreise. Stimmt. Doch jetzt bin ich ja da.

An mein übliches Rad für die langen Strecken kam erst vor kurzem ganz viel Übersetzung dran, denn ich habe mir eine neue Schaltgruppe gegönnt. Sehr toll, an sich. Nur blöd, dass diese noch schlecht eingestellt ist und beim Schalten zickt. Weil ich aber statt noch längerer Aufenthalte im hauseigenem Keller endlich los wollte, beschloss ich auf den neuen alten Franzosen umzusatteln.

Die Rede ist von einem schicken alten Rennrad aus den 80er Jahren, das mir ein Freund überlassen hatte. 250 Euro Investition und ein paar Stunden Schrauberei später stand dann mein neuer Oldtimer da. Ganz prächtig in rot und weiß trägt er den Namen „Pyromane“. Ein tolles Rad. Einziger Nachteil: Eine Übersetzung, die auch größere Steigungen verdaut, gibt es hier wirklich nicht.

Ich stehe also in Würzburg und schwitze schon, als ich aus der Stadt raus will. Franken hat keine flache Landschaft. Schnell ist klar, dass Steigungen und meine nicht vorhandene Übersetzung die kommenden Tage ein Thema bleiben werden … 

Der herrliche Ausblick hilft über die schweren Beine hinweg. Die Tipps der Kollegen machen sich wirklich bezahlt: Öfter die „Locals“ fragen als Komoot die Planung zu überlassen. Das klingt nicht wirklich überraschend, kann aber über die Stimmung entscheiden. Ich mache Stopps für Fotomotive. Viel häufiger als sonst. Nicht nur, weil es in der untergehenden Spätsommersonne herrlich schön ist, sondern auch, weil ich außerdem die schwere Minolta nicht umsonst mitgeschleppt haben will. Irgendwie ist das ja widersprüchlich, aber auch  toll: Einerseits die Zahnbürste abschneiden, keine Wechselklamotten mitnehmen und alles so leicht wie möglich halten, andererseits mit altem Stahlrahmen und analogem Metallfotoapparat unterwegs sein. 

Bei fantastischer Aussicht über den Main flicke ich einen platten Reifen. Im Weinberg oberhalb der Mainschleife. Zwischen Trauben und Äpfeln. Schlimmer geht immer.
Mit der Fähre übers Wasser in den Sonnenuntergang. Über Handthal durch den Wald. Immer wieder schiebe ich. Anders komme ich die Steigungen einfach nicht hoch. Nach 50 Kilometern geht es lange bergab und meine Laune richtig nach oben. Wie toll ist es denn bitte, dem Schein der Lampe hinterher durch die Nacht zu rauschen? Ich liebe es, auf dem Rad unterwegs zu sein. Irgendwann ein Schild, das Pizza verspricht. Die Leuchtreklame verheißt Rettung.
Umgeben von Charlie Chaplin-Bildern und Figuren bin ich der einzige Gast. Die Pizza kostet lächerliche 5 Euro und das Bier kommt aus der Gegend. Der Stopp war nötiger als gedacht. Ich habe trotz eines holprigen Starts schon 70 km hinter mich gebracht. 

Bevor ich weiterfahre, ziehe ich – wie man abgedroschener Weise sagt – alles an, was ich dabei habe. Es hat überraschende 8 Grad. Zeit für Beinlinge und Windjacke und für Bewegung. Ich sehe zu, dass ich einen Platz finde, um in meinen Schlafsack zu kriechen.
Wer sich fragt, wie es eigentlich geht, dass ich spät in die Nacht Rad fahre, obwohl es schon dunkel ist und die Augen müde sind, dem sei gesagt, dass ich ganz plump jedes Mal verpasse, einen Schlafplatz zu finden, solange es noch hell ist. Stattdessen fahre ich durch die Dunkelheit und sehe die sicherlich zuhauf vorhandenen Möglichkeiten zum Ausbreiten einfach nicht mehr. Also komme ich auch heute erst um kurz vor Mitternacht zum Stehen, als ich einen abgelegenen Sportplatz entdecke. Zähne putzen, einrollen und einschlafen. 85 km sind geschafft. Das lief doch gar nicht so schlecht.

Tag 2

Gegen 6 Uhr wache ich auf im Tau. Es ist nass und es ist kalt. Laut Garmin 5 Grad. Uiuiui. Morgenroutine. Katzenwäsche. Schnell los. Ich will in die Sonne. Und Kaffee will ich auch.
Die Fähre über den Main-Donau-Kanal, die eigentlich auf meiner Route liegt, fährt noch nicht. Ich bin zu früh dran. Stattdessen muss ich einen kleinen Bogen fahren. Auf der Brücke an der Bundesstraße mache ich mir keine Freunde unter den Autofahrern. Es hilft aber nichts. Ich muss da drüber.
Endlich Frühstück beim Supermarkt-Bäcker. Hier finde ich auch, was ich sonst noch brauche: Feuchte Tücher, Saft und Nüsse. Dann weiter. Hinein in die wärmende Sonne. Hinein in einen langen Tag auf dem Rad.
Mein Weg führt mich auf Asphalt und über Schotterwege. Gerade, als ich mir noch denke, dass ich mit 32 Millimetern wohl die falschen Reifen für ein solches Gelände unter mir habe, merke ich, dass mein hinteres Rad wieder keine Luft hat. Ein zweiter Platten. Mist. 
In Hiltpoltstein gönne ich mir ein zweites Frühstück. Auch wenn das noch mehr Zeit frisst: Was soll’s? Ich habe weder eine Deadline noch ungeduldige Mitfahrer. Wenn es bei meinen Touren sonst heißt: „It’s all about moving time“, heißt es heute bei mir: „It’s all about enjoying the time.“ 

Ich tue gut daran, langsam zu machen. Denn der heutige Tag wird schwer werden. Mit einem alten Stahlrenner kann man zwar sehr gut posen und schöne Bilder für’s Internet machen. Die Berge (mit Gepäck) hochfahren, kann man damit aber nicht so gut. Auch dann nicht, wenn man sehr dicke austrainierte Beine hätte. Die ich zur Zeit sowieso nicht habe.
Ich quäle mich also die Hügel rauf. Immer wieder muss ich schieben. Im ersten Gang treten oder schieben. Das ist meine Art der Fortbewegung. Trotz aller Anstrengung überrede ich mich innerlich zum Genießen. Das klappt ganz gut. Fotomöglichkeiten in bombastischer Landschaft und Kaiserwetter sei Dank.

Bis zu meinem dritten Platten. Den bemerke ich nach meiner Pause auf dem Hohenstein. Notgedrungen drehe ich mein Rad auf den Kopf um wechsle meinen löchrigen Schlauch. 
Eine ältere Dame erkundigt sich nach meinem Befinden. Sie hat Mitleid. Und als ich ihr berichte, dass ich heute eigentlich noch bis Regensburg wolle, winkt sie ab und gibt mir ihre Adresse. Das sei nicht so weit von hier, meint sie, und gemütlicher als im Wald könne ich auch bei ihr im Gästezimmer übernachten. Ich bin gerührt von der Freundlichkeit und auch ein wenig versucht, das Angebot anzunehmen. Menschen sind wundervoll, manchmal. Ich bin wieder etwas versöhnter mit der Welt.

Der nächste Kontakt zur Gattung Mensch fällt dafür weniger positiv aus. Ein Rentner mit poliertem Mercedes beschwert sich, dass ich meinen Platten ausgerechnet auf dem Parkplatz flicke, der direkt am Eingang zum Biergarten liegt. Den hätte er viel nötiger gehabt. Ich lasse mich auf den ewigen Kampf der Auto- gegen Radfahrer ein und lasse mich nicht wegschicken. Schimpfend und mit rotem Kopf rangiert der wütende Herr in den nächsten freien Parkplatz 30 Meter entfernt. Er zeigt mir den Vogel und ich fantasiere über polierten, aber zerkratzten Autolack.

Ich rolle weiter. Obwohl ich gerade schon (wieder) pausiert habe, bin ich immer noch wahnsinnig müde. Die Hitze, die Hügel, das schwere Bike, die Unlust … der fehlende Flow. Ich verordne mir einen Mittagsschlaf. Den erhalte ich mit Hürden, denn zunächst lege ich meine Isomatte auf ein Ameisenvolk, das mir fleißig die Entspannung verpieselt. Mit juckendem Hintern schaffe ich es irgendwann, wegzudösen. Zwei Stunden liege ich am Waldrand. Das tut gut. Geweckt werde ich vom Anruf meiner Freundin. Der gestehe ich, dass ich versucht bin, einfach weiter liegen zu bleiben.

Gut, dass ich es nicht tue. Denn als ich meinen Schlafsack einrolle, kommt eine Ortskundige vorbei und warnt mich vor den Wildschweinen, die es hier wohl zur Zeit gibt. Die aufgewühlte Erde neben uns macht ihre Warnung glaubwürdig. Zum Schlafen ist es eh noch zu früh. Außerdem brauche ich noch was zu essen. Am besten viel.
Ein paar Stunden später lasse ich meinen Blick durch Sulzbach-Rosenberg schweifen. Auf der Suche nach einem Imbiss. Ich zuckel wirklich nur von Pause zu Pause. Kein Wunder, dass ich vergleichsweise noch nicht wirklich viel Strecke gemacht habe. Seit heute morgen bin ich unterwegs und habe gerade mal knappe 100 km auf der Uhr. Doch es hilft nichts. Ich kann gerade einfach nicht unendlich bolzen. Keine Reserve in meinem Körper. Zu erschöpft, ausgelaugt und kein Bergritzel am Rad.


Am Chinesischen Restaurant erhoffe ich mir einen Platz im Freien und viel Reis. Beides finde ich. Ich schlage mit den Bauch voll. Höchste Zeit war es.
Es ist dunkel, als ich weitertrete, begleitet von verhaltenem Regen. Getunte Autos überholen mich viel zu knapp und heulen mir mit ihren Motoren die Ohren voll. Irgendwie nervt das alles schon ziemlich. Meine Laune oben zu halten ist unterm Strich wirklich kein leichtes Unterfangen.

Ich bin froh, als ich wieder raus aus der Stadt bin und lasse mal wieder meinen Blick nach einer Übernachtungsmöglichkeit schweifen. Meine Suche wird lange dauern. Ganze drei Stunden werde ich an meiner Strecke entlang vergeblich einen Unterschlupf suchen, der meinen Ansprüchen (nicht zu gruselig, nicht zu offen, nicht mitten in der Zivilisation, aber auch nicht mitten in der Wildnis …) genügen wird. Im Vergleich zu gestern ist es angenehm. Der Regen hat schnell nachgelassen und außerdem habe Ich chinesisches Essen in meinem Bauch. In der Stille der Nacht finde ich auch wieder zu meiner Ruhe. 

Drei Stunden und ca. 60 klebrige Kilometer später mache ich auf meiner Route einen See mit Bootsverleih und Stellplatz für Wohnmobile aus. Dort werde auch ich einen Ort zum Niederlegen finden. Müde bin ich mittlerweile wieder richtig. Gestern fantasierte ich noch davon, die Nacht durchzufahren. Pustekuchen. Die heutigen 160 Kilometer fühlen sich an wie 300. Schon beim Zähneputzen beschließe ich, dass ich morgen nicht bis München fahren werde. Dafür geht es einfach nicht schnell genug voran.

Tag 3

Meine nächtliche Ruhe wird unterbrochen vom Regen. Das Regenradar, auf das ich sonst schwöre, hat mir einen kurzen Schauer verheimlicht. Ich ziehe um unter einen Bootsanhänger. Dort ist es zwar eng und staubig, doch es ist ja nur für eine halbe Nacht. Heute soll es bis Regensburg gehen. Übersichtliche 40 Kilometer. Das geht immer, auch im Reservemodus. Kaffeetrinken beim Dorfbäcker. Restliche Müdigkeit akzeptieren. Versuchen, sich nicht allzu sehr über die zerbrochene Fahrradbrille zu ärgern. Eine Erfolgstour wird es nicht mehr.
Dank Alexanders Tipp führt ein überragend schöner, aber für mich und mein aktuelles Rad viel zu holpriger Trail an der Regen entlang. Ich vermisse meinen Crosser gerade wirklich sehr. Ein Sprung ins Wasser kurz vor Regensburg versöhnt mich mit der Welt. Nach drei Tagen ohne Dusche entlockt mir das Wasser einen kurzen Freudenschrei. Vielleicht ist es aber auch nur die Erleichterung.

Abschluss meiner Fahrt bilden ein Knödel mit Pilzen, ein alkoholisches Getränk und ein Bayernticket. Ich bin happy mit meiner Entscheidung, ab hier den Zug zu nehmen.
„Und? Wie war die Tour?” Eine Frage, die ich häufiger hören durfte. Ich bin um eine Antwort verlegen gewesen. Selbst schuld.

Meine Tour war … nicht fertig gefahren und lange nicht fertig geschrieben. Doch das ist okay. Nachträglich gesehen hätte ich natürlich die Zeit, die ich sowieso wartend auf dem Bahnsteig verbrachte habe, nutzen können, um die Schaltung meines perfekt geeigneten Rads fit zu machen. Die Zeit hätte sich spätestens bergauf und auf den Schotterwegen fünffach zurückgezahlt. Doch dass es etwas Schönes ist, auf einem alten Stahlrenner in wundervollen Landschaften unterwegs zu sein, dass es grundsätzlich möglich und gleichzeitig anstrengend ist, war mir schon vorher klar.

Gelohnt hat es sich. Alleine schon für die Bilder.

5 Gedanken zu „Nur Schieben ist schöner

  1. 🙂 Schieben is gut für den Rücken und je öfter man Platte flickt, desto schneller gehts im Ernstfall. Bei Rädern dieser Generation kann man froh sein wenn einem nicht die Speichen um die Ohren fliegen (Helicomatic).
    Die Bilder haben Lust gemacht d Tour nachzufahren, evtl in umgekehrter Richtung…Und Respekt dem Biwak könig!
    Alexander Regensburg

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