Eins
Es wurde mal wieder Zeit. Mein Winter ist in Sachen Radfahren wirklich als irrelevant zu bewerten. Wie oft ich das Bett mit einem Infekt gehütet, die Radkumpels wegen irgendeiner Entzündung ohne mich habe losfahren lassen und wie viele Wochenendpläne ich wieder über den Haufen geworfen habe, bekomme ich nicht mehr zusammen. Irgendwie war die Luft raus. Und irgendwie bekam ich auch keine neue Luft rein.
Dann kam die Pandemie und von Woche zu Woche stand fest: Dieses Jahr muss und wird das Radfahren anders laufen. Alle vorgenommenen Brevets: Abgesagt. Flèche Allemagne: Abgesagt. Mainfranken-Graveler: Abgesagt.
Stattdessen: hängende Schultern, ein wachsender Ranzen und staubige Räder. Ohne die anstehenden Events fehlt mir die Motivation, mich in Form zu bringen. Ohne die notwendige Form bin ich aber nicht in der Lage, weite Strecken zu fahren. Ein Teufelskreis. Ausgelöst durch die fatale Annahme, Rad fahren hänge untrennbar mit sportlicher Leistung, mit „Performance“ zusammen. In meiner Vorstellung manifestierten sich absurde Fehlannahmen, etwa dass eine Radtour mindestens 100 km aufweisen müsse oder ähnliches. Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen. Mit einem Plan so einfach wie naheliegend. Rad fahren zum Vergnügen.
An einem verlängerten Wochenende fahre ich nach Lindau. Vielleicht auch wieder zurück. Mal sehen. Hauptsache Rad fahren. Rad fahren um des Radfahrens willen und nicht zu Trainings-, Leistungs- oder Selbstdisziplinierungszwecken. Erholung statt Selbstoptimierung.
Ich habe Zeit ab Donnerstag. Fühle mich aber nicht fit. Irgendwie lauert diese chronische Erkältung immer noch tief in mir. Sollte ich überhaupt los? Mit im Freien schlafen und so? Ich verschiebe meine große Frühlingsfahrt auf Freitag. Die erste richtige Entscheidung. Der Druck muss raus. Fahre ich eben einen Tag weniger. Wen juckt’s? Ich gönne mir einen Ruhetag. Ich lege die Beine hoch und komme erst mal zur Ruhe.
Das Rad ist für den Reisemodus schnell gepackt und schwerer als in meiner Erinnerung. Anders als sonst packe ich einen kleinen Kocher ein. Die gastronomischen Angebote sind in Bayern zur Zeit einfach zu unsicher. Außerdem sollen meine Pausen mehr Raum als sonst bekommen.
Zwei
Ich starte nicht wie geplant um 8:00 Uhr morgens, sondern zwei Stunden später. An jeder Ecke diszipliniere ich mich zur Entschleunigung, was sich als genau richtig herausstellen wird.
Mein Weg führt mich nicht direkt nach Südwesten, sondern über einen Umweg nach Augsburg. Dort wohnt mein Bruder. Schon die 70 km dorthin werden eine Umstellung für mich. Immer wieder rede ich mir zu: „Tempo raus! Du bist nicht in Höchstform. Schau dir doch die Landschaft an. Mach mal Pause zwischendurch.“
Mein eigenes Zureden hilft. Ich mache Pause am Supermarkt und beim Bäcker. Auf einer schönen Bank mitten im Grünen halte ich inne. So geht es also auch.
In Augsburg dehne ich meinen Zwischenstopp auf 4 Stunden aus. Pasta, Kaffee und das Sofa bei meinem Bruder. „Wie weit fährst du heute noch?“ „Keine Ahnung. Zwei, drei Stunden … mal sehen.“ Mir gefällt mein neu entdecktes Befreitsein von festen Vorsätzen und fixen Tageszielen.
Wieder auf dem Sattel fahre ich an der Wertach entlang, der langsam sinkenden Sonne entgegen. Ein Radfahrer im Rentenalter namens Dieter spricht mich auf mein Gepäck an. Er sei selbst auch Radreisender und ganz neidisch auf mich. Wir fahren ein Stück zusammen. Dieter erzählt von seiner Ausrüstung und seinen Touren mit dem Rad und dem Motorrad. Manchmal vermischen sich die Berichte. Offensichtlich hat Dieter Redebedarf. Corona macht einsam.
Immer wieder beschließt er, mich doch noch ein Stückchen länger zu begleiten und kommt aus dem Berichten gar nicht mehr raus. Ich lasse ihn erzählen und freunde mich mit dem Gedanken an, dass man auch bei langsamer Vorwärtsfahrt vorankommt. Was für eine nette Begegnung.Irgendwann trennen sich unsere Wege. Meiner läuft weiter in Richtung Südwesten und Dieters zurück nach Augsburg. Ich fahre wieder allein. Die Sonne ist mittlerweile fast weg und die dämmrige Landschaft zieht nach und nach vorbei. An einem Selbstbedienungskiosk tanke ich auf und ziehe mich wärmer an. Ich bin unterwegs – und das ist schön.
Irgendwann ist es ganz dunkel und ich selbst müde. Die Schlafplatzsuche zieht sich länger hin als erhofft. Darum braucht es auch nur wenige Minuten, bis ich einschlafe, nachdem ich mich hinter einer Bank irgendwo hinter Türkheim im Allgäu in meinen Schlafsack gerollt habe. Endlich wieder draußen schlafen.
Drei
Mein Wecker hat nur wenig Autorität über mich. Ich öffne die Augen nicht um 5.00 Uhr morgens, sondern um 7:00 Uhr. Trotzdem schaffe ich es nicht, mich aus dem warmen Schlafsack zu befreien. Und so entdecke ich aus Faulheit den Genuss, noch im Schlafsack liegend mir einen Kaffee zuzubereiten. So, wie ich es auch Zuhause liebe. Kaffee im Bett. So ein Kocher ist schon was feines. Gleich noch ein Porridge hinterher.
Mit Koffein in der Blutbahn fällt das Losfahren leichter. Ich freue mich außerdem darüber, mich gestern nicht völlig kaputt gefahren zu haben. Häufig geht es mir, wenn ich länger unterwegs bin, so, dass ich die ersten Stunden erstmal meinen Muskelkater vertreiben muss. Heute ist das nicht so.
Regen liegt in der Luft. Pünktlich zum Gewitter stehe ich trocken vor dem Getränkemarkt in Mindelheim und warte, bis dieser öffnet. Es gibt: „Zwoi Wasserle und an rodn Muldifrucht.“ Willkommen im Allgäu.
Während ich vorbei am saftigen Frühjahrsgrün fahrend weiter trete, lässt der Regen nach und macht Platz für einen Tag voller Sonne. Die Strecke entpuppt sich als landschaftlicher Traum und die lange schon vergessen geglaubten Radfahr-Endorphine schwemmen sämtliche Müdigkeit und Erkältungsfrustration davon. So geht also Fahrradfahren. Habe ganz vergessen, wie sich das anfühlt.
In Ottobeuren wartet der nächste Versorgungsstop. Käse aus der Region. Dazu kräftiges Brot und noch mehr Saft. Ich versuche auf meiner Tour, wie neuerdings auch im Alltag, so gut es geht auf raffinierten Zucker zu verzichten. Bislang funktioniert das ganz gut. Ich bekomme auch ohne die obligatorische Cola ausreichend Druck auf die Kurbel.
Vor etwa 15 Jahren bin ich mit meinem Bruder schon einmal nach Lindau gefahren. Meine Tour heute ist also auch eine kleine Fahrt in die Vergangenheit. An viele der Ecken meine ich mich zu erinnern. Die Bauernhöfe, durch die es mich führt, die Hügel und immer wieder die Aussicht über das Allgäu.
Vor allem die besagten Hügel machten mir schon damals zu schaffen. Hoch sind sie ja nicht, aber eben steil. Die Sonne und die Anstrengung treiben mir ordentlich Schweiß auf die Stirn.
Wie weit schaffe ich es wohl heute? Ich rechne hoch, wie weit es nach Lindau ist, und fühle in mich hinein. Beim Blick auf das vor mir liegende Höhenprofil und meine schlaffen Beinchen wird mir klar, dass mir zur Erholung zwei Tage auf dem Rad absolut ausreichen werden.
Ich beschließe nach Lindau zu fahren, dort die Nacht zu verbringen und morgen meine Heimreise mit dem Zug anzutreten. Mehr muss es für dieses Mal nicht sein. Auch wenn die Zeit dafür da wäre: Ich muss mir nichts beweisen und auf meinen Körper sollte ich eh mehr hören.
Randnotiz: Unabhängig von meiner Tagesplanung beschließe ich in München möglichst schnell etwas für eine bergtaugliche Übersetzung zu tun. So kann das alles nicht weitergehen. So dicke Beine, wie für diese Kassette nötig, werde ich auch in 20 Jahren nicht bekommen. Aber das nur am Rande.
Ein guter Plan. Mit einem Ziel vor Augen fährt es sich noch besser als sowieso schon. Das Allgäu und die Bodenseeregion bleibt natürlich schön. Die Sonne bleibt weiterhin heiß und die Zeit auf dem Rad wunderbar.
Die Strecke zum Bodensee schrumpft langsam dahin. So wenig fahre ich in der Summe irgendwie doch nicht. Das alte Gefühl der stetigen Erschöpfung kehrt zurück.
Zu meiner Erleichterung geht es die letzten Kilometer fast nur bergab. Endlich rolle ich in die Innenstadt von Lindau. Ab über die Brücke auf die weltbekannte Insel. Der Hafen mit einem Leuchtturm wirkt zwar senioresk, aber trotzdem oder gerade deshalb schön.
Die Cafés haben geschlossen. Die Imbissbuden dürfen trotzdem verkaufen. Gut für mich. Ich stoße an, mit mir auf meine erste größere Tour dieses Jahr.
Ich habe ordentlich auf die Bremse gedrückt und das war genau richtig.
Vier
Ich suche mir einen Platz zum Sonnenbaden und zum Bleiben. Herrlich schön ist es hier. Mitten am Ufer ganz für mich. Vor mir geht die Sonne unter. Friedlich und zufrieden schlafe ich ein.
Fünf
Das Gewitter weckt mich eine Stunde nach meinem Übertritt in die Traumwelt auf. Fuck. Es blitzt und donnert. Gleich geht es hier richtig los … Hastig packe ich meine Sachen zusammen. Was ist wichtig? Die Kamera, klar. Der Schlafsack auch. Der Rest: alles grob zusammengepackt. Schnell unter ein Dach – irgendeins! Aber wo?
Während ich mein Rad in Richtung anliegender Gebäude schiebe, bin ich in kürzester Zeit komplett nass. Da, endlich eine Überdachung.
Wo ist mein Packsack? Mist, ich habe mein Packsack verloren. Im Regen und mit der Handylampe suche ich das Ufer ab. Wieder und wieder. Das kann doch nicht wahr sein … Im Gebüsch werde ich endlich fündig.
Jetzt brauche ich nur noch einen trockenen Platz. Schön muss er gar nicht sein. Zum Glück muss ich den nicht lange suchen. Hinter einem Lagerhaus finde ich eine Laderampe, die dem Staub nach zu urteilen wohl nicht im aktiven Betrieb ist. Morgen ist Sonntag, da wird mich auch in den frühen Morgenstunden niemand aufscheuchen. Beruhigt breite ich mich wieder aus.
Mein Schlafsack ist klamm, so wie irgendwie alles. Aber alles halb so wild. Hauptsache, ich liege nicht im strömenden Regen, der auf das Dach über mir prasselt. Hauptsache, ich bin unterwegs. Hauptsache Abenteuer. Hauptsache Rad fahren.
…
Servus Jobinski,
freut mich, dass du wieder Spass an deinem Hobby gefunden hast (und mich daran teilhaben lässt)! Wen interessieren schon Daten wie Stunden im Sattel, Durchschnittsgeschwindigkeit, Höhenmeter!
Ich beneide dich um das Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit, die in deinen Berichten so toll rüberkommt. Ich lese solche Bikepacking-Blogs sehr gerne, hatte aber noch nicht den Mut, mit Schlafsack und Matte loszuziehen. Genieße den Sommer (und schreib darüber, wenn du Lust hast)!