Ich habe wieder mal eine Fahrt gemacht. Ich nenne sie den „DHL-Graveler“. Man könnte auch sagen einen „Hermes-Overnigher“ oder die „DPD-Bikepacking-Challenge“. Ein Konzept, das ich zur Nachahmung explizit empfehle. Doch von Anfang an…
… Es kam so, dass Andreas aus Hamburg mir ein Bild schickte. Ein Foto von mir, von vor genau einem Jahr. Es zeigt mich am Ziel des Candy B Gravelers, 640 km in den Beinen, müde und glücklich. „Ist das wirklich ein Jahr her?“, denke ich mir und blicke skeptisch an mir herunter.
Das Ganze passiert, während ich auf dem Sofa liege und mir alle alten Folgen „Game of Thrones“ anschaue. Meine letzte Ausfahrt vorgestern – zwar eine ausgedehnte Hausrunde, mehr aber auch nicht – liegt mir schwerer in den Knochen als ich es wahrhaben möchte.
Irgendwie lief das alles doch schon mal besser. Besonders im Vergleich zu letztem Jahr. Natürlich würde ich jetzt viel lieber draußen irgendwelche Abenteuer erleben, als hier drinnen bei heruntergelassenen Rollläden meine freien Tage verstreichen zu lassen. Wenn ich nicht gleichzeitig so unglaublich faul und unmotiviert wäre. Meine Nicht-Motivation hat eine neue Dimension erreicht. Ich habe meinem Schweinehund eine Hütte gebaut. Eine Hütte mit Sofagarnitur und Beamerleinwand.
Eine halbe Stunde später bekomme ich eine E-Mail: Meine Regenjacke ist auf eBay verkauft worden. Ich solle schon mal den Versand vorbereiten. Ich schaue auf die angegebene Adresse. Die Postleitzahl beginnt mit einer 8. So so. Bayern also. Der Ort heißt Altenmarkt an der Alz. Das liegt nördlich vom Chiemsee. Dort ist es ziemlich schön, meine ich mich zu erinnern.
So kommt es zu einer spontanen Idee. Ich beschließe das eine (meinen Drang nach Unternehmung im Freien) mit dem anderen (ein Paket verschicken zu müssen) zu verbinden. Ich bereite also den Versand vor, indem ich meine Fahrradtaschen packe. Alles, was man für eine Übernachtung im Freien braucht.
Anstatt eines Versandetiketts klicke ich mir eine Route nach Altenmarkt an der Alz für mein Radnavi zusammen. Ich werde das Paket selbst ausliefern. Morgen Mittag fahre ich los. Irgendeinen Anlass braucht mein Schweinehund, sonst bleibt er bis August in seiner Hütte liegen. Das Paket selbst mit dem Rad zu liefern, ist ein schöner Plan. Beruhigt und auch mit ein wenig Vorfreude lege ich mich wieder aufs Sofa und kehre zurück nach Westeros.
Start ist 13:00 Uhr. Klar hab ich Lust. Jedoch bin ich wirklich nicht mehr in der Form meines Lebens. Das weiß ich. Mein Schweinehund weiß das auch. Daher habe ich auch gewaltige Hemmung, endlich los zu rollen. Auch die Option, jederzeit in den Zug steigen zu können, mindert meinen Respekt vor den vielen Kilometern nur minimal.
Unterwegs stelle ich fest: Ich weiß gar nicht mehr, wie das ausdauernde Radfahren richtig läuft. Also ich weiß natürlich noch sehr gut, wie Radfahren funktioniert. Wenn ein Pedal oben ist, muss man es nach unten drücken. Jedoch erscheint mir das lange Sitzen im Sattel über mehrere Stunden erschreckend ungewohnt. Worauf soll man eigentlich nochmal achten? Auf die Karte? Die prächtige Frühlingslandschaft? Auf den Puls oder die Beine? Scheinbar habe ich wirklich alles vergessen. Nur schwer finde ich meinen Rhythmus. Kann man Radfahren verlernen?
Erst nach und nach komme ich wieder dahinter. Nach etwa drei oder 8 Stunden (keine Ahnung) kommt das alte Gefühl zurück. Die vertrauten Stellen drücken auf ihre altvertraute Weise und auch die Beine brennen, wie ich es von ihnen kenne. Das lief im letzten Jahr alles schon einmal besser, das stimmt. Aber es läuft. Der Fahrtwind, die Sonne auf der Nase, Feldwege, Straßenverkehr, ein Wasserhahn an einem Fussballplatz. Ich komme gut voran.
In Rosenheim mache ich meinen ersten Stop an einem türkischen Imbiss. Endlich wieder fettiges Essen ohne schlechtes Gewissen. Eine große Portion Deftiges, bitte. Und eine zweite hinterher. Mein Magen ist leer.
Meine Route führt mich an der Mangfall (ein Nebenfluss des Inns) entlang. Leicht bergab, dafür mit sanftem Gegenwind. Ich bin mittlerweile wieder voll und ganz in meinem altvertrauten Modus. Im Unterwegsmodus. Oder Adventuremode. Ich trete durch bis in die Nachmittagsstunden und komme irgendwann an jenen Ort, an den mein eBay-Paket gehört. Ich darf Ballast loswerden. Das wäre geschafft.
Und jetzt?Ich bin frei von Verpflichtungen, habe keine Termine, meine Schlafsachen sind dabei und ich stehe in einer traumhaften Landschaft. Mal sehen, ob es hier in der Nähe einen See gibt. Die Karte sagt „ja“. Die Wirklichkeit widerspricht dem nicht. Leider hat der Getränkemarkt im kleinen Seeon am Klostersee schon geschlossen. Schade. Ein Feierabendbier hätte mir jetzt durchaus entsprochen. Ich rolle weiter durch den Ort und mache einen Abstecher an den Friedhof. Wasser auffüllen. Sehr gut. Der Kaffee morgen früh ist schon mal gesichert. Jetzt brauche ich nur noch einen geschützten Schlafplatz. Am liebsten an diesem wundervollen See.
An einem Kiosk am Strandbad sitzen noch Menschen in Fahrradkleidung. „Volltreffer“, denke ich und lege eine Vollbremsung ein. Ich begrüße die Runde und bestelle ein Bier. „Das bekommst du aber nur, wenn du heute mindestens 60 Kilometer gefahren bist”, witzelt einer der Anwesenden. „Dann nehme ich gleich zwei”, gebe ich zurück und habe sowohl die Bewunderung als auch die Schlagfertigkeit auf meiner Seite.
„Ob ich das öfter mache?” Sehr gute Frage, denke ich mir. Eigentlich ja, aber zur Zeit? Ich werde ausgefragt über meine Route und meine Unterkunft heute Nacht, und da ich insgeheim darauf spekuliere, gleich hier am See zu übernachten, frage ich scheinbar ganz nebenbei, ob es in Ordnung wäre, wenn ich mich mit meinem Schlafsack ans Ufer legen würde.
Es ist mehr als nur „in Ordnung“. Nun habe ich die volle Gastfreundschaft der Kiosk-Chefin auf meiner Seite. Sie bietet mir an, mir einen bequemen Liegestuhl raus zu stellen, die Sitzpolster der Plastikstühle zu nehmen, gleich hier unter dem Vordach zu schlafen und vieles weitere mehr. Alles gar nicht nötig. Außerdem wird mir selbst gemachter Schnaps vor die Nase gestellt. Damit ich nicht erfriere heute Nacht.
Ich bin stolz und glücklich. Stolz über meine Kilometer und glücklich über meinen sicheren Schlafplatz. Noch glücklicher bin ich über den Abendhimmel, der sich auf Postkartenniveau vor mir erstreckt. Glücklich kann man hier nicht werden. Glücklich kann man hier nur sein.
Ich bedanke und verabschiede mich und ziehe um an den Badesteg, direkt ans Wasser. Dieses sieht so verlockend aus, dass ich meine Radklamotten ausziehe und die Treppenstufen in das klare Nass nehme. Ich wasche den Dreck des Tages von meinem Adamskostüm und bin kurz davor, einmal ganz unterzutauchen … doch die Angst vor der Kälte hält mich zurück. Auch das war schon einmal anders. Ein Handtuch habe ich leider nicht dabei. Das nächste Mal dann wieder.
Raus aus dem Wasser, rein in die warmen trockenen Sachen. Die Beine schon halb im warmen Daunenschlafsack, koche ich mir ein ziemlich schlechtes Fertig-Pfannengericht auf dem Gaskocher. Dass etwas trotz großen Hungers so mies schmecken kann, muss man erstmal schaffen. Meiner Glücklichkeit schadet es trotzdem nicht. Ich esse auf und verschwinde ganz im Schlafsack. Wenige Minuten später bin ich für heute abgemeldet.
Richtig gut schlafen werde ich nicht. Ich wache immer wieder auf. Mein Rücken schmerzt. Unruhig wälze ich mich auf dem Badesteg hin und her. Gegen 4 Uhr wird mein Schlafsack feucht vom Morgentau. Hätte ich mich mal in den Biwaksack gelegt, anstatt nur oben drauf. Ich bin wohl auch beim Draußenschlafen ein wenig aus der Übung.
Noch bevor mein Wecker um 5:30 Uhr klingelt, beschließe ich aufzustehen. Erholt werde ich sowieso nicht sein. Während das Wasser für den Kaffee langsam kocht, schlüpfe ich in die klammen Radklamotten und stopfe meine Schlafsachen in die Taschen. Man, ist das frisch alles! Der Kaffee verdrängt kurzzeitig die Kälte und gegen 6 Uhr rollen meine Räder wieder auf der Straße. Mein Radcomputer verkündet 3 Grad und ich verkünde meinen Hunger.
Ein richtiges Frühstück habe ich nicht eingepackt, was ich jetzt einigermaßen bereue. Es heißt darum Ausschau halten, was ich gerne tue, denn die Aussicht ist atemberaubend. Ich fahre durch verschlafene Orte, hinein in den Sonnenaufgang. Der Nebel über den Wiesen und Äckern. Die Sonnenstrahlen, die sich mehr und mehr über die Hügel und durch die Bäume wagen. All das gibt mir ein Gefühl des Angekommenseins. Das Thermometer klettert zaghaft, aber stetig, nach oben, und obwohl vor mir noch eine dreistellige Anzahl an Kilometern liegt, bin ich jetzt schon dort, wo ich sein will. Auf einem Rad in einer traumhaften Landschaft.
Es stimmt schon, dass meine Beine sich die Hügel hinauf sehr viel schwerer tun, als ich mir das von ihnen wünschen würde. Es stimmt schon auch, dass meine Füße und Finger taub sind vor Kälte und mein Magen leer wie mein sonst so voller Kopf. Doch sind das nicht genau die Dinge, die ich so vermisst habe?
23 Stunden nach meinem Aufbruch gestern komme ich erschöpft und glücklich wieder Zuhause an. Ein Abenteuer der einfachen und eben dadurch so besonderen Art. Es brauchte nicht viel, um mich wieder zurückzuholen: in das Radfieber, das mich im letzten Jahr schon so herrlich weit getragen hatte. Bei mir war es eine eBay-Auktion, ein leichtes Kribbeln in den Beinen und 24 Stunden runter vom Sofa. 230 Kilometer später und ich bin wieder voll da.
Was ich kurz gesagt eigentlich sagen wollte: Ich bin wieder zurück auf dem Rad – und das freut mich.
Schöne Idee, toll geschrieben!
Danke dir Jochen. Dein Bericht zum Hanse Gravel hat mir auch sehr gut gefallen. Übrigens: Nächstes Jahr MFG: Meine Anmeldung ist schon fest vorgenommen. Dieses Jahr leider terminlich nicht möglich. Liebe grüße aus München und Kette rechts!
Das würde mich sehr freuen – ich trag Dich gleich schon mal in die geheime Starterliste 2020 ein … 😉