Auf Schotterwegen in die Hauptstadt Berlin.
Ich wollte mich ja zunächst erstmal sortieren bevor ich mich an diesen Bericht setzen wollte. Jetzt ist die zweite Auflage des “Candy B gravelers” schon mehr als zwei Wochen her und ich komme immer noch nicht ganz klar. All die Eindrücke, Bilder Episoden, Emotionen müssen erstmal verarbeitet werden. Genau wie die Ernüchterung bei der Erkenntnis, dass es schon wieder vorbei ist. Aber der Reihe nach:
Zur Begriffserklärung:
Der “candy b graveler” ist eine gemeinsame Fahrradtour bei der etwa 70 Radfahrer und Radfahrerinnen eine festgelegte Route (meist abseits der Hauptstraßen auf unbefestigten Wegen) entlang der ehemaligen Luftbrücke zwischen Frankfurt am Main und Berlin fahren. Beim “candy” gilt ein bestimmter Kodex, an den sich alle Fahrerinnen und Fahrer mehr oder weniger streng halten. Die Fahrerinnen und Fahrer bewegen sich “self-supported”, also auf sich allein gestellt was ihre Verpflegung, Navigation, Planung oder sonstige Unterstützung betrifft. Das bedeutet, es gibt weder Versorgungsstationen oder organisierte Übernachtungsmöglichkeiten.
Offiziell ist der “candy b graveler” kein Rennen, inoffiziell schon. So wie jede Radveranstaltung ein Rennen ist. Zumindest für manche und zumindest gefühlt. Es gibt zwar weder etwas zu gewinnen oder eine offizielle Zeitnahme. Als letzter ins Ziel einrollen wollen allerdings die wenigsten und irgendwie weiß doch jeder, dank Echtzeittracking auf welcher Position er sich gerade ungefähr befindet und wer gerade vorne liegt.
Start am Luftbrückendenkmal Frankfurt war am Donnerstag den 12. April um 10:00 Uhr. Die meisten Fahrerinnen und Fahrer kamen im Laufe des darauffolgenden Sonntags in Berlin an.
Jetzt zu meinem persönlichen Candy-Erlebnis:
Los geht es für mich am Mittwoch Abend direkt nach der Arbeit. Mit Frühbucher-ICE und verpackten Fahrrad in der Transporttasche. Ganz rein gepasst hat es nicht. Das hintere Schutzblech bleibt an der frischen Luft. Ich platziere das Gepäckstück irgendwo im Eingangsbereich und (um eine eventuelle Diskussion mit den Zugbegleitern zu vermeiden) mich selbst in Sichtweite aber in diskreten Abstand.
In Frankfurt baue ich zum ersten Mal ein Fahrrad auf einem Bahnsteig zwischen Pendlern und Partytouristen zusammen. Das klappt eigentlich ganz gut. Jetzt muss ich nur noch die Wohnung meiner Freunde finden. Die Route dorthin habe ich zwar schon auf meinem Fahrradnavi gespeichert, doch das ist noch etwas orientierungslos und findet keinen Satelliten. Google Maps hilft aus und dank Sprachhinweisen und ausgeruhten Beinen schaffe ich es in den fünften Stock in die Wohnung meiner Freunde. Zumindest das wäre geschafft. Ich bin samt Rad in der richtigen Stadt.
Mein Abendprogramm bleibt überschaubar. Badezimmer, Sachen zurechtlegen, Schlafcouch, Wecker stellen und Aufregung beiseite schieben.
Dem Wecker komme ich zuvor. Ich bin zu nervös für Tiefschlaf. Also lieber Anziehen, Trinkflaschen auffüllen, Po eincremen, Transporttasche samt Zivilkleidung in den mitgebrachten Postkarton stopften, Kaffee trinken und sich von den Gastgebern verabschieden. Danke nochmals!
Zwei Straßen weiter hat trotz früher Stunde schon ein Kiosk mit DHL-Annahmestelle geöffnet. Ich freue mich über den los gewordenen Ballast und darüber, dass mein, zumindest innerer, logistischer Wahnsinn (Bahn, Post, Wege, Abfahrtszeiten, Transport…) endlich überstanden scheint. Jetzt kann ich los fahren. Ab jetzt kann ich sowieso nichts mehr planen. Ab sofort beginnt das Abenteuer.
40 Minuten später stehe ich am Treffpunkt, einem Imbiss namens Terminal 4. Um mich herum tummeln sich schon die anderen Candypiloten. Vorwiegend Männern in engen Hosen. Hier passe ich gut her.
Haftungsausschluss unterschreiben, tracker in Empfang nehmen. Kaffee trinken, Wurst essen und noch mehr Kaffee trinken. Um mich herum wird sich beschnuppert und die Fahrzeuge abgecheckt.
Hier steht eine Unmenge an Monatsgehalt herum, welches gerne präsentiert wird. Es wird viel beäugt und fotografiert. Besonders gerne das eigene Rad. Dürfte man hier theoretisch mit einem billigen Rad überhaupt mitfahren? Achtung! Dass ich hier nicht falsch verstanden werde: Ich liebe Fahrräder und alle hier anwesenden Personen sind prima Typen. Allerdings ist mir dieser Teil der Veranstaltung eindeutig zu nerdig und auch ein wenig zu protzig. Mich langweilen die technischen Details und Aussagen über Gewicht, Ritzelzähne oder Reifenbreite. Ich will gerne losfahren. Denn das müssen hier alle. Ob mit branddeuen 5000€ Carbonschlitten oder altgedienten 500€ Stahlhobel.
10:00 Uhr: Der Candy hat Starterlaubnis:
Unzählige Fotos später wird los gerollt. Endlich. Über siebzig Radfahrerinnen und Radfahrer geben ihren Pedalen Druck und bin ich mitten drin. Fühlt sich gut an. Es herrscht wundervolles Wetter, meine Beine sind ausgeruht und vor mir liegt das unbekannte Irgendwas.
Auf den ersten Metern wird schon ordentlich Kraft auf die Kurbeln gegeben. Irgendwie will hier jeder schnell vom Fleck kommen. Alle haben wohl die magischen 640 km auf ihren Radcomputern stehen und die wollen schließlich gefressen werden.
Wer hier in Welcher Reihenfolge am Ziel sein wird sich beinahe entgültig schon in den nächsten sechs Stunden herausstellen. Nach dem ersten halben Tag werde ich von den 70 Starterinnen und Startern immer wieder dieselben 15 Leute wieder treffen. Es finden und trennen sich Paare oder kleine Gruppen. Manche fahren gerne allein. Ich fahre sonst meistens ohne Begleitung und freue mich darüber dies heute nicht tun zu müssen. Schaum mal da hinten: Eine ganze Herde Rehe. Alles ist ganz prima hier.
Ich spreche mit den verschiedensten Candyfahrern oder lausche ihren Gesprächen. Jeder hat hier dasselbe Ziel und jeder eine andere Vorstellung von dem Weg, der noch vor uns liegt. Manche wollen möglichst schnell, andere möglichst heile in Berlin ankommen. Andere freuen sich darauf endlich ihre teure Ausrüstung zu benutzen oder ihre Heldengeschichten auf dem Rad los zu werden. Wieder andere sind altgediente Langstreckenveteranen. Diese wissen scheinbar schon genau, was auf sie zukommt, während ein kleiner Teil zum ersten Mal eine mehrtägige Radtour macht. Manche wollen sich beweisen, andere sich auspowern oder sich selbst an ihre Grenze bringen. Einige suchen Motive für ihren Instagram Account, Stories für ihren Blog oder wollen ihrer Stravastatistik einen ordentlichen Schub verpassen. Und Ich? Mir geht es wohl ein bisschen so wie allen hier. Soviel sei vorweg genommen: Jeder wird in den kommenden Tagen auf seine Kosten kommen.
Die feste Strecke, die wir nachfahren ist traumhaft. Ganz wundervoll führt uns der vorgeschriebene track jenseits von Bundesstraßen und Verkehrsknotenpunkten über feinste Feldwege und Schotterpisten. Die sonnige Landschaft Hessens fliegt vorbei und so sind die ersten 40 km schnell weg getreten. Ein Biergarten an einem idyllischen See hat schon einige Fahrer vor uns zum Anhalten bewogen. Es wird sich hingesetzt, Kaltgetränke und Fettiges bestellt und schlau daher geredet. Die Wirtin und auch ihr Vorrat an alkoholfreiem Weißbier scheinen auf einen derartigen Andrang nicht vorbereitet und so dauert alles seine Zeit.
Ich habe Hummeln im Hintern und will eigentlich weiter. Für eine große Pause ist es mir noch zu früh. Frei wie ich bin nehme ich mir die Freiheit und bestelle mein Sportgetränk wieder ab. Ich bin mir sicher, dass es noch seinen Weg in einen trockenen Mund gefunden haben wird. Währenddessen mache ich erstmal etwas Strecke.
Es ist seltsam über etwas zu schreiben das noch keine 14 Tage her ist aber immer mehr im Dunkel der verschwommenen Erinnerung versinkt. Gefühlt war dieser erste Tag des Candy ganz anders als die drei darauf folgenden. Irgendwie heller und auch trockener. Ich weiß noch, dass ich Andreas aus Hamburg kennen gelernt habe, was sich als ein wahrer Glücksfall herausstellte. Andreas ist ein entspannter Typ mit dem man zwar ganz hervorragend über Lebens- und Radfahrerkram sprechen, aber (und das ist fast noch wichtiger) mit dem man genausogut über eine längere Zeit auch mal die Klappe halten kann. Andreas und ich werden ein prima Team abgeben. Er vornweg ich hinerher. Andreas hat übrigens auch die meisten dieser schönen Fotos geschossen, die hier zu sehen sind. Find ich super, denn mir fehlte dazu meistens die Puste oder die Muse.
Die erste Prüfung von Muskeln und Lunge wartet am berüchtigten “Weinberg”. Ein steiler Hang, den hinauf zu fahren zu versuchen gar nicht nötig ist. Für mich viel zu steil. Ein anderer Candyfahrer sitzt am Anfang dieser track-gewordenen Schikane und schiebt sich etwas essbares in den Mund. Auf unsere rhetorische Frage, ob er gerade zu Mittag esse entgegnet dieser nur: “Ja, damit ich später was zum Kotzen habe.” Eine treffende Beschreibung dessen, was sich da vor uns auftut. Mein Puls hämmert mir die Schläfe taub und meine Poren geben sämtliches Wasser in meinem Körper an meine Kleidung ab.
Am Gipfel steht Hans von Fahrradio mit einem Aufnahmegerät. Ich habe auf der Zugfahrt nach Frankfurt ihren Podcast gehört und wusste schon, dass Hans irgendwo auf der Strecke die Fahrer abfangen wollte. Um mich als sporadischen Hörer zu outen fehlt mir der Atem und auch um eine schlagfertige Antwort bin ich eher verlegen. Aber für die Banane möchte ich mich gerne bedanken: Danke Hans!
Die Strecke zwischen Frankfurt und Berlin hat viele Höhenmeter und verlangt einiges von mir ab. Allerdings gibt sie auch vieles zurück, wie zum Beispiel eine prachtvolle Aussicht oder den Marsriegel der vor mir auf dem Trail liegt. Der wandert direkt in meinen Mund.
Einen Teil der Strecke fahren wir gemeinsam mit Alexander. Ihn habe ich eine Woche zuvor aus dem 200er Brevet in München kennen gelernt. Vor allem habe ich mich damals über seinen Windschatten gefreut. Der ist heute verboten. Doch das macht nichts. Bei dem Thempo heute kann von Luftwiederstand weniger die Rede sein.
Bergauf und bergab, durch Wiesen und kleine Orte, in denen alles ein bisschen kleiner, langsamer und nach Früher aussieht. Ein kleiner Halt an der Tankstelle: Eis und Zuckerwasser. Nach etwa 100km endlich ein großer Stop an einer Dönerbude. Bude trifft es ganz gut. Alles klebt ein bisschen und die Toilette ist mehr Donnerbalken als Sanitäranlage. Aber der Dürüm ist ein Kalorien gewordenes Gedicht . Er kostet zwar soviel wie in München, ist dafür aber doppelt so groß.
Der Blick auf die Uhr lässt uns grübeln. So richtig voran kommt man bei diesen Straßen nicht so recht. Andreas träumt laut davon 200 km bis heute Abend voll zu machen. Ich insgeheim auch. So recht dran glauben kann ich noch nicht.
Wir treiben unsere Räder weiter den Track entlang immer weiter in Richtung Fulda. Fulda ist der insgeheime Meilenstein. Die Hitze des Tages lässt irgendwann nach und auch die Energie kehrt langsam in meinen Körper zurück.
Ich frage mich hin und wieder wie so ein track entsteht. Teilweise traumhaft, teilweise wirr, fast immer malerisch schlängelt sich unser Weg durch die Wälder, Wiesen und die Kiespisten der Rhön. Uns ist es recht, wir fahren es gerne. Weil wir das Radfahren lieben.
…
Fortsetzung gibt es hier und ein Video folgt auch in Kürze
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Hi, Ich bedanke mich für das Kompliment. Das Trikot hab ich irgendwann mal im Internet gesehen. Wo das war, kann ich ehrlicherweise nciht mehr sagen. Das was so ein Facbook-weis-was–du-brauchst-und-penetriert-dich-mit-Werbung-bis-du-es-kaufst-Ding.
Danke, dann wirds ja irgendwann bei mir auftauchen…