Gerade stehe ich am schönsten Fluss der Welt. Glasklares türkises Wasser schlängelt sich sprudelnd durch grotesk geformte, glatt gespülte, weiße Felsformationen. Im Hintergrund die Alpen Sloweniens. Links und rechts mit Blumen bewachsene Wiesen in kräftigen Farben und verträumte Wälder. Das Licht der Abendsonne bricht sich durch die Baumwipfel und taucht die Szenerie in ein warmes Rot.
Dieser Ort ist so schön, dass ich am liebsten in ihn hinein tauchen möchte. Und weil das in gewisser Weise sogar möglich ist, mache ich das. Ich streife meine Badehose über und klettere auf den Felsen, bis ich über einer Stelle stehe an der das Flussbett ein tiefes Becken bildet. Ich halte inne, schaue in den Himmel, sauge das Sonnenlicht auf, atme ein, dann springe ich. Nach einem kurzen Moment der Schwerelosigkeit tauche ich in das klare Wasser. Es ist stechend kalt auf meiner Haut. Sekunde um Sekunde zieht das Wasser die Wärme aus meinen Gliedern. Schwimmzug um Schwimmzug breitet sich ein Stechen in meinen Fingerspitzen und Füßen aus. Ich ziehe mich keuchend ans Ufer und wickle mich in ein raues Handtuch. Sehr langsam kehrt die Wärme zusammen mit einer Welle an Glückshormonen in meinen Körper zurück. Ich fühle mich sehr lebendig und so was von da. Was für ein schöner Ort.
Doch ich bin hier nicht alleine. Auch andere Menschen finden diesen Ort so schön wie ich. Mit zahllosen Smartphones und Kameras versuchen sie ihn auf ihren SD-Karten festzuhalten und teilbar zu machen. Hier ist niemand einfach so. Bevor hier ins Wasser gesprungen wird, muss erst die optimale Fotoperspektive gesucht werden. Das Bild hat man davor, zumindest im Hinterkopf. Darf man hier überhaupt reinspringen ohne ein Foto davon gemacht zu haben? Fest steht: wer hier keinen Insta-Post absetzt verschenkt Likes.
Ich merke: die ästhetische Verwertung unseres Lebens bestimmt mehr und mehr unser Handeln. Soweit nichts Neues. Mittlerweile geht es allerdings noch weiter. Ich bekomme das Gefühl, dass Dinge nicht mehr gemacht und gleichzeitig eben auch bildhaft verwertet werden. Sondern, dass Dinge vor allem wegen ihrer verwertbaren Ästhetik und weniger für die Sache an sich gemacht werden.
Mache ich ein Foto von mir wie ich ins Wasser springe? Oder springe ich ins Wasser damit ich ein Foto machen kann?
Auf fällt mir das bei mir selbst. Beim Essen gehen, beim Wandern, im Biergarten. Der Druck, einer bestimmten Ästhetik zu entsprechen, zwängt sich in alle Bereiche meines Lebens. So auch auf mein Fahrrad. Wie in jeder Szene hat sich hier innerhalb der letzten Jahre ein ganz bestimmter Look etabliert. Dieser bestimmt das Aussehen des Rads, der Ausrüstung, der Kleidung und macht auch vor dem Aussehen des Körpers nicht halt. Wer heute Rad fahren will, ohne ein Augenrollen der Community zu provozieren, darf das gefühlt erst dann, wenn er ein ästhetisches Bild erfüllt. Fahre ich Rad weil ich es schön finde, oder bin ich schön, wenn ich Rad fahre?
Ein Kommentar unter einem meiner Instagrambilder macht deutlich wie übersteigert das Diktat einer bestimmten Ästhetik ausfallen kann. Ein Nutzer kommentierte unter eins meiner Bilder: “Ich würde es begrüßen, wenn Radfahrer, die weit fahren, auch aussehen wie Radfahrer, die weit fahren und nicht so pausbäckig, sonst fall ich echt vom Glauben ab, wie scheinbar heute Radsport definiert wird …” Auf meine verdutzte Nachfrage wird mir geraten “die Pizza zu verdammen und das Bier zu halbieren.”
Ich bin 400 Kilometer von München nach Prag in kurzer Zeit gefahren und meine Biere sind meistens Halbe – doch das alles war anscheinend nicht ästhetisch genug. Sogar so unästhetisch, dass “Fahrradgott85” von seinem Glauben abfällt.
Mir ist klar, dass es sich beim Verfasser dieses ungebetenen Ratschlages um ein unreflektiertes Arschgesicht handelt. Dennoch beschäftigt mich dieser Kommentar länger als ich es will.
Er setzt mich zurück in die 6. Klasse. Direkt in den Sportunterricht. Dort war ich für die anderen Jungs nur der “Junge mit den Titten”. Wegen meiner, für einen Jungen, relativ groß gewachsener Brüste wurde ich mit Lolo Ferrari verglichen. Lolo Ferrari, die damalige Guinness-Weltrekordhalterin der größten Brüste der Welt. Um diesen Hänseleien zu entgehen, fing ich an mir vor jedem Sportunterricht die Brüste mit Klebeband abzukleben. Die Hänseleien ließen nach. Jedoch zu dem hohen Preis, dass ich mich selbst verleugnet habe.
Soll ich heute, über 15 Jahre später, dem Druck der Ästhetik und dem Rat von “Fahrradgott85” wirklich nachgeben und auf meine geliebte Pizza verzichten? Natürlich nicht!
Nach den endlich überwundenen Jahren meiner Pubertät und den anschließenden Jahren der Orientierung und der Selbstfindung, ging ich hoffnungsvoll davon aus, dass es mir mit steigendem Alter immer weniger wichtig wird, was Menschen von mir halten. Oder, dass es wichtiger wird, zu tun was mir Freude bereitet, anstatt ein Bild von mir zu zeichnen.
Die Befreiung vom selbstauferlegten Zwang, immer passend angezogen und angepasst zu sein – um an sich in Ordung zu sein – hielt ich immer für eine große Errungenschaft des Erwachsenwerdens. Durch die Überinszenierung der optischen Aspekte unseres Lebens besteht allerdings die Gefahr, dass wir uns wieder in eine Zeit versetzen, in der wir uns viel zu sehr über unser Äußeres definieren.
Wenn ich in Zukunft mit dem Rad weit weg fahren will, möchte ich das mit dem gleichen Gefühl machen, wie mit 16 Jahren: Als mein Bruder und ich mit billiger, quietschbunter Ausrüstung vom Discounter, verwaschenen T-shirts und Badehosen statt Designer-Radkleidung aus Japan und Brüsten so groß wie die von Lolo Ferrari in Richtung Freiheit gefahren sind. Aus heutiger Sicht sahen wir wahrscheinlich indiskutabel aus. Doch davon wussten wir noch nichts. Es gab noch keine Facebookgruppen und kein Instagram. Wir hatten noch nicht einmal eine Kamera dabei.
Guter Punkt: »Auge fährt mit«?! … Während man früher »seinen eigenen Stil« entwickeln durfte, gibt es heute scheinbar ungeschriebene Stilregeln (oder eben geschriebene), die mehr zählen als alles andere. In einem anderen Kontext fand ich folgenden Spruch ganz aufschlussreich. Sinngemäß sagt er:
»Jeder will individuell sein, aber wehe, jemand ist anders.«
Servus.
Das Auge fährt mit oder fahre ich für die Augen anderer?
Das kannst nur Du entscheiden – jedesmal neu.
Richtig. Und gleichzeitig auch darauf achten andere FahrerInnen nicht pausenlos in ein ästhetisches Ranking zu sortieren.
Ich habe allerdings Hoffnungen…
LOL. So isses. Kampf dem Sport. Es ist darauf zu beharren, dass Radfahren KEIN Sport ist, sondern Radfahren. Ein Journalist der Süddeutschen hat diesem Gedanken in seinem Bericht über PBP ein Denkmal gesetzt. https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/sport/radrennen-paris-brest-paris-e538075/?reduced=true
Danke für deine Zustimmung und die Leseempfehlung. Leider ist der Artikel nur für sz-plus Kunden lesbar. Ich speichere mir den allerdings mal ab.
Neulich hab ich mal gelesen, dass man kein Bikepacker ist, wenn man statt Satteltasche einen Gepäckträger mit zwei Backrollern dran hat. Man ist dann nur Tourenradler. Vorne darf es scheinbar auch keine Lenkertasche sein. Eine Lenkerrolle ist das Teil der Wahl, scheissegal, wie unpraktisch die Dinger sind. Dazu könnte man meinen, man kann auch nur auf Tour gehen, wenn Surly, Bombtrack, Canyon oder irgendeine andere Must-Have Marke auf dem Rahmen steht. Aber dann sehe ich wieder Fahrer, die nicht wissen, dass sie mit ihrem Setup nicht fahren dürfen und bin beruhigt.;-)
bikepacking geht angeblich nur mit fatbike.
Und Rucksack am Fahrrad geht gar nicht. 🤧
Drauf geschissen…. die ganzen Radsportsektierer habe ich sowieso gefressen. Aber neu ist das Thema ja auch nicht. Mal Blumfeld zitieren: Dich interessiert doch nicht, was Du erlebst, nur das was Du davon erzählen kannst. Das war noch in der ‚Früher-war-alles-besser-prä-Facebook-Instagram-etc.‘-Ära. Und nochmal: Drauf geschissen! Ich erinnere mich gerne an die Momente beim Candy, nass, verschwitzt, mit und ohne Titten, dafür aber in Unterwäsche in einer Kaschemme Suppe essen. Das war großartig! Bleb so!
Liebe geht raus nach Hessen!
Amtlich auf den Punkt gebracht 👍. Keine Gedanken machen – einfach fahren.
Klar doch, danke dir.
Machen was einen glücklich macht, anziehen was einem gefällt und drauf geschi.. en was andere davon halten.
Ich bin vor kurzem mit bunten Kniestrümpfen, Lederhosenlook und schlappe Shirt in Italien im Bike Hotel zur Radausfahrt erschienen. Da hätte man mal die Gesichter filmen sollen, jedenfalls hat es für gute Stimmung gesorgt und somit passt es auch wieder.
Jedenfalls bin ich überzeugt, viele Styler sind mit ihrem Zwangsstyle nicht wirklich zufrieden.
So sehe ich das auch.Ich fahre für mich und meine Erlebnisse/Erfahrungen.
Wir sind besessen von Benennungen, Schubladen und Kategorien. Deswegen muss alles definiert sein. Wie hat etwas auszusehen damit es A heißt. Wie sieht etwas aus damit es als XY bezeichnet werden kann. Einfach machen.
Guter Punkt, Jo! Und wie immer gut in Worte gefasst.
Danke für deine Zeilen. Bleibt ib dir treu, mach was DICH glücklich macht. Poste wann du magst u d was du willst. Die Nörgler haben die meisten Komplexe und größten Ängste. Über meine „Ästhetik“ mache ich mir schon lange keine Gedanken mehr. Ich zieh hier an was mir gefällt. Mein Rad schaut manchmal auch „komisch“ aus. Na und? Ich poste z. B. Auch Räder die ich interessant finde, trotz dem Wissen dass es nicht nu positive Reaktionen geben wird. Aber ich zeige damit ja MEIN Bild von der Fahrradwelt, mein Interesse und auch wie ich es „lebe“. Wie ich dabei auch noch aussehe… Ob ich eine laufende Reklame bin oder ein Christbaum, oder ein Recyclingfan… Ich fühl mich wohl.
Vielen Dank für diesen tollen Eintrag! Regt zum Nachdenken an. Habe ich doch selbst auch schon (und vergeblich) versucht, mich für Insta adäquat zu inszenieren. Und wenn auch meine eigenen Sporterfahrungen in der 6. Klasse längst nicht so krass wie die deinen waren, so gehörte ich auch immer zu den Mopsigen, die bei der Auswahl der Mannschaften zuletzt aufgerufen wurden.