Am 16.08.2019 hat der Lieferdienst Deliveroo seinen Dienst in Deutschland eingestellt. Vier Tage vorher wurden die Fahrer darüber informiert. Höchste Zeit also, einen Artikel zu veröffentlichen, der schon einige Zeit in der Schublade liegt …
Vorweg sei gesagt: Ich fuhr gerne für Deliveroo. Weil ich gerne auf dem Rad unterwegs bin. Essen auszufahren war für mich wie eine Schnitzeljagd durch die Stadt – und je schneller man den Schatz findet, desto mehr Geld gibt es. In Wind und Regen erlebte ich ein urbanes Abenteuer. Ich war einer dieser „daily heroes“, die „den Laden am Laufen hielten“ und den Menschen Nahrung brachten. So zumindest mein Grundgefühl.
Ich berichte von meiner Zeit als Deliveroo-Fahrer, die ein gutes Stück über ein Jahr lang angedauert hat. Kann man dabei schon von einem Dauertest reden? Wahrscheinlich schon.
Wichtig bei meinem Bericht ist mir dabei zu betonen, dass Deliveroo für jeden Fahrer anders funktionierte. Nicht jeder wird daher die gleichen Erfahrungen gemacht haben wie ich. Zum einen unterschieden sich die Liefergebiete teils stark voneinander, zum anderen betraf dies aber auch die Menge, also wie viel Essen jeder in der Woche ausgefahren hat. Positiv für mich war vor allem die Erfahrung mit Deliveroo, da ich nicht auf das zusätzlich verdiente Geld angewiesen war. Meine Miete verdiene ich als Sozialpädagoge in einem Angestelltenverhältnis. Wäre ich ein Essenslieferant in Vollzeit gewesen, sähe das Ganze in vielerlei Hinsicht schon anders aus.
Selbstständiges Arbeiten
Eigene angestellte Fahrer hatte Deliveroo, soweit ich weiß, keine. Gut für Deliveroo. Stichwort Scheinselbständigkeit. Kranken-, Renten- und Unfallversicherung kann man sich so sparen.
Die Arbeit als selbstständig Tätiger hat Vor- und Nachteile, vor allem heißt es aber: Selbst und ständig. Um alles Bürokratische, die Rechnungen, Versicherungen, Radpflege usw. kümmerst du dich selbst. Das unternehmerische Risiko liegt im Grunde voll und ganz bei dir. Gibt es an einem Tag keine oder wenig Bestellungen: Blöd für dich. Deliveroo war es egal, ob du Geld verdient hast oder nicht.
Andererseits konnte ich selbst auch mal entscheiden, an einem Tag doch nicht zu fahren. Die Konsequenzen wie etwa kein Geld zu bekommen oder bei der nächsten Schichtplanung benachteiligt zu sein, musste ich dann eben auch selber tragen.
Die Handykosten, den Verschleiß an Rad und Kleidung musste ich selbst mit meinem Lohn verrechnen. Hinzu kamen die Kosten für Kranken- und Unfallversicherung sowie die dringend gebotene Haftpflichtversicherung. Arbeitnehmertechnisch ist das bei genauerer Betrachtung doch schon sehr uncool.
Schließlich ist Kurierfahrer zu sein ein gefährlicher Job. Wer regelmäßig bei jedem Wetter mit dem Rad im Stadtverkehr unterwegs ist, hat vielleicht eine Ahnung davon. Im Zweifel hilft da auch der Helm nicht viel.
Damit Ihr eine Vorstellung davon bekommt, wie die Arbeit als Essensausfahrer so aussieht, schildere ich euch mal, wie so eine klassische Schicht abgelaufen ist.
Um in einem bestimmten Gebiet zu einer bestimmten Zeit fahren zu können, musste ich zunächst die entsprechenden Schichten buchen. Für jedes Gebiet gab es eine maximale Anzahl an Fahrerinnen und Fahrern. Die Buchung von Schichten nimmt man etwa zwei Wochen im Voraus vor. Manchmal konnte ich mich allerdings auch spontan am selben Tag eintragen. Besonders begehrt waren natürlich jene Schichten, an denen besonders viel los war, sprich eher abends als nachmittags und natürlich der Sonntag. Die Fahrer, die ihre Schichten besonders pünktlich und vollständig angetreten hatten, wurden bei der Schichtvergabe bevorzugt bzw. konnten je nach Ranking früher als andere Ihre Wunschschichten buchen.
Hatte ich also eine Schicht gebucht, konnte ich mich innerhalb einer bestimmten Zone eines Liefergebietes mit meiner Rider-App auf dem Handy einloggen. Jetzt hieß es abwarten und Aufträge annehmen. Je nach Zeitpunkt konnte es bereits nach wenigen Sekunden schon richtig zur Sache gehen – oder eben erst nach einigen Minuten. Manchmal auch gar nicht. Es ist durchaus vorgekommen, dass ich unverrichteter Dinge wieder nach Hause gefahren bin. Geld gab es dafür keines.
Hatte ich einen Auftrag angenommen, musste ich zunächst zum Restaurant fahren und das Essen in Empfang nehmen. Manchmal galt es auch erst zu warten, bis das Essen fertig zubereitet war. Das war immer weniger lustig, da jede Minute, in der ich mich nicht bewegte, gleichzeitig auch weniger Geld bedeutete.
Natürlich gab es auch Restaurants, die wirklich nichts gebacken bekamen, einen unfreundlich behandelten bzw. sogar ignorierten. Andererseits waren da aber auch jene Restaurants, die einem Wasser anboten oder manchmal einfach ungefragt einen „Mango Lassi“ für die Wartezeit hinstellten. In solchen Fällen wartete man auch gerne mal drei Minuten länger.
War das Essen im Thermo-Rucksack verstaut, bestätigte ich die Bestellung auf meiner App und erfuhr die Adresse des Kunden. Nun galt es also zum Kunden zu fahren und das Essen auszuliefern. So weit, so einfach.
In den allermeisten Fällen klappte dieser Ablauf reibungslos. Doch wie jedes System barg auch dieses Frustrationspotential. Zum Beispiel dann, wenn die Kunden die Klingel nicht hörten, da sie Kopfhörer trugen, das Essen auf ihrem Heimweg bestellten und noch gar nicht Zuhause waren, oder weil sie schlicht und einfach dumm waren.
Dumm heißt zum Beispiel: Nur seinen Vornamen und die Straße, allerdings keine Hausnummer oder den Namen, der auf dem Klingelschild steht, anzugeben. Dumm ist auch, so bekifft zu sein, dass man zwar die Gegensprechanlage in Anspruch nimmt, aber vergisst, letztlich die Türe zu öffnen.
Nervig konnte es auch werden, wenn es einen Lift im Haus gab, die Kunden aber nicht verraten wollten, in welchem Stock sie wohnten. Im Zweifel hieß es dann zu Fuß bis nach oben zu laufen und jedes Stockwerk einzeln abzuklappern. Das ist an sich nichts Schlimmes, nicht jeder kann schließlich an alles denken. Doch wenn man 5 Mal hintereinander in den 4. Stock stiefelt, obwohl ein Aufzug vorhanden ist, kommen einem schon Zweifel am Verstand des Kunden.
Verdienst
Für jemanden wie mich, der einmal, manchmal zweimal in der Woche abends, meistens am viel gefragten Sonntag, gefahren ist, war der Verdienst gut bis sehr gut.
Bei durchschnittlich drei bis fünf Stunden in der Woche verdiente ich monatlich etwa 200 bis 300 Euro. Das ist an sich nicht schlecht für einen Nebenjob (Steuern, Radverschleiß und Versicherungen sind dabei jedoch noch nicht verrechnet). Und da ich das wirklich nur nebenbei machte, war das durchaus alles sinnvoll. Immerhin hatte ich zeitgleich einen „richtigen“ Job, der meine Miete und mein Essen bezahlte.
Von 300 Euro könnte ich natürlich nicht leben – wie eigentlich niemand, der in einer Großstadt lebt. Wenn jemand allerdings auf einen Job wie diesen angewiesen ist, muss er natürlich viel häufiger fahren, um mehr zu verdienen. Also auch in den Zeiten, in denen weniger Bestellungen reinkommen, und wenn es blöd lief, sogar gar keine. Dann reduziert sich der durchschnittliche Stundenlohn natürlich drastisch bis weit unter das Mindestlohnniveau.
Ein schwankender Stundenlohn von 0–35 Euro? Damit kann keiner planen. Außerdem finde ich, dass darauf niemand angewiesen sein sollte.
Das Geschäftsmodell von Deliveroo würde natürlich nicht funktionieren, sollten alle Fahrer nur nebenbei fahren und das auch nur in den Zeiten, in denen auch was los ist. Deliveroo konnte natürlich damit werben, besonders flexible Arbeitszeiten anzubieten. So richtig flexibel war das Ganze, mit Blick auf das System der Schichtvergabe, allerdings doch nicht.
Trinkgeld
Trinkgeld gab es über die App bei der Bestellung oder bar auf die Hand. Oder auch gar nicht.
Trinkgeld ist eine tückische Angelegenheit. Man freut sich immer über Trinkgeld, aber auch nur deshalb, weil man es nicht immer bekommt. Rechnen kann man mit Trinkgeld nämlich nicht. Es konnte auch durchaus vorkommen, dass jemand eine riesige Bestellung an Essen und zwei Flaschen Wein bestellte und dann letztlich 50 Cent Trinkgeld gab. In Momenten wie diesen wurde mir dann immer ein Stück mehr bewusst, auf welcher gesellschaftlichen Position ich als Dienstleister stand. Tendenziell eher unterhalb der Kunden.
Mir ist vollkommen klar: Trinkgeld zu geben ist keine Pflicht. Aber in manchen Fällen ist eben ein sehr kleines Trinkgeld schlimmer als gar keines. Auf die Frage, was denn ein gutes Trinkgeld sei, antworte ich: ab 1,50 € geht ein Trinkgeld los. 2 € sollten es allerdings mindestens sein. Die 10%-Faustregel ist dabei nicht relevant. Wie viel jemand bestellte, war für mich als Fahrer fast egal. Der Weg war so oder so immer derselbe für mich.
Die Geschichten
Selbstverständlich passiert so einiges, wie immer, wenn man sich unter Menschen bewegt. Ich erinnere mich an einen Mann, der sich nachmittags 10 Krapfen liefern ließ. Und als er mir die Türe öffnete, sah er für mich selbst ein bisschen wie ein Krapfen aus.
Ich erinnere mich auch an einen Kunden, der seine Wohnung scheinbar schon lange nicht mehr verlassen hatte bzw. seine Hygiene arg vernachlässigte und ein dementsprechend scharfer Geruch das Treppenhaus durchzog, als er die Türe öffnete.
Kunden gab es wirklich die unterschiedlichsten: Überforderte Eltern, die jeden Mittag Nudeln mit Tomatensoße bestellten anstatt selbst zu kochen, die Bewohnerinnen und Bewohner der Kiffer WG, die verlässlich jeden Montag gegen 20:30 Uhr mit leuchtenden Augen im Flur standen, um die heiße Ware sehnsüchtig in Empfang zu nehmen. Studenten, reiche Anwälte, einsame Menschen, gesellige Runden, Villen, Büros, Reihenhäuser, Campingplätze. Man sieht und erlebt vieles.
Die vielleicht interessanteste Geschichte ist wohl die jener Frau, die sich das Essen ins Hotelzimmer kommen ließ und mir ihre Türe nackt öffnete. Was klingt wie eine erotische Filmszene war in Wirklichkeit alles andere als erotisch aufregend. Die gute Frau, ja sie war jung und hübsch, war einfach zu faul oder zu verpeilt, sich etwas überzuziehen. Sie hat sich auch nicht unbedingt lasziv angeboten oder mir verruchte Blicke zugeworfen. Nichts dergleichen. Nur Kleidung hatte sie eben keine an.
Ich stand also da in meiner vollen Regenmontur, meine Brille war beschlagen und so recht umzugehen mit der Situation wusste ich auch nicht. Ehe mir klar wurde, wo ich denn jetzt wieder gelandet war, war die Türe auch schon wieder zu. Trinkgeld hatte die Frau keines bei sich. Wo sollte sie dieses denn auch aufbewahrt haben?
Für manche meiner Kollegen war Deliveroo die einzige Möglichkeit Geld zu verdienen. Das ist dann eine richtig miese Situation. Dann steht man nämlich da und darf auf keinen Fall krank werden. Denn krank sein heißt kein Geld verdienen. Ein bisschen krank und Sauwetter bedeutet meist für den nächsten Tag krank zu sein … Wenn man darauf angewiesen ist, diesen Job zu machen, ist das Ganze wirklich kein Spaß.
Für jemanden wie mich, der das System Deliveroo nutzte, um sich am Abend noch etwas zu bewegen und um sich ein wenig Taschengeld dazu zu verdienen, war es voll okay.
Allerdings freue ich mich jetzt, nachdem Deliveroo in Deutschland dicht gemacht hat, über die Zeit, in der ich nach Feierabend einfach so wieder aufs Rad steigen und der Freiheit entgegen fahren werde, ohne dabei verschwitzt in Vorräumen von Küchen oder Hausfluren warten zu müssen.
Danke für die Einsichten 🙂 Wen das Thema interessiert – im Radsalon war mal eine Fahrerin zu Gast (http://radsalon.regine-heidorn.de/rr019-no-sweat-no-food-delivery-needs-to-be-fast-the-food-has-to-be-fresh-and-hot-samantha-franchini/) und auch Liefern am Limit haben als Gewerkschaft Einiges zu sagen, zum Beispiel warum es wichtig ist für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen anstatt den Job einfach nicht zu machen (http://radsalon.regine-heidorn.de/rr065-orry-mittenmayer-und-liefern-am-limit/)