Ich habe letztes Jahr schon einmal versucht, 400 Kilometer am Stück Rad zu fahren. Beim Brevet in München. (Brevet: Eine Langstrecken-Radfahrt, bei der eine bestimmte Strecke innerhalb eines bestimmten Zeitraums ohne fremde Hilfe zu fahren ist). Versucht heißt nicht geschafft. In den Bergen Österreichs, hinter dem (gefühlt) vierten Pass, nach einem Platzregen, einer vergessenen Regenjacke und akutem Schlafmangel, war morgens um 4 Uhr die Luft raus. Als dann auch noch ein Bahnhof an der Strecke lag, stand fest: 400 Kilometer? Sollen andere fahren. Ich bin raus.
Das war im letzten Jahr. Weil ich, wie man so doof sagt … „noch eine Rechnung offen hatte” (Entschuldigung, aber so sollte wirklich niemand denken. Wer Rechnungen mit einer Strecke offen hat, sollte vermutlich seine Sichtweise überarbeiten. Einer Strecke ist es schließlich wurscht, ob man sie fährt oder nicht.), habe ich mich in diesem Jahr zum 400 km-Brevet in Berlin angemeldet. Dort habe ich für die gleiche Distanz zwar die gleiche Zeit, doch Berge sucht man dort vergebens. Berge? Soll jemand anderes hochfahren.
So kommt es, dass ich im Januar einen Zug nach Berlin im Mai buche. Einen Stellplatz für mein Rad gibt es im ICE sogar auch. Kein lästiges Rad auseinanderbauen und in eine in die Jahre gekommene Tasche stopfen mehr. Ein Fahrradstellplatz im Zug: Mehr Luxus brauche ich in meiner Freizeit nicht.
Der Zug nach Berlin fährt in zwei Stunden. Ich sitze trotzdem schon am Bahnsteig mit einem Kartoffelsalat in der Hand. Zuhause fällt mir die Decke auf den Kopf und mein Hörbuch kann ich auch auf einer Sitzbank anhören. Ich bin spürbar nervös. Warum eigentlich? Die 200 und 300 Kilometer-Brevets in den letzten Wochen, die in München starteten, liefen doch auch ganz gut? Auch mit Bergen. Ich formuliere die Nervosität innerlich in Vorfreude um und schon geht es wieder einigermaßen.
Da kommt ja schon der Zug. Viereinhalb Stunden später bin ich in Berlin und weitere 20 Minuten später stehe ich im Amstelhouse. Das ist das Hostel, das auch als Start- und Zielpunkt für die morgige Rundfahrt dient. Hier schlafe ich heute.
Mein Zimmer habe ich auch schnell gefunden. Darin liegt schon ein anderer Mensch friedlich atmend. Bestimmt auch ein Randonneur, schlussfolgere ich, da er nicht mit den anderen Gästen an der Bar abhängt.
Ich beginne mich umzuziehen. An Orten, an denen ich mir ein Badezimmer mit anderen fremden Menschen teile, wird ein klassischer Schlafanzug zum mitgebrachten Heimvorteil. Ich lege alles bereit, was ich für morgen brauche: Radhose, Radtrikot, Radschuhe. Moment! Ich erstarre. Scheiße. Ich habe meine Radschuhe vergessen. Da sitze ich heute Nachmittag noch zwei Stunden zu früh am Bahngleis und hätte Zeit gehabt, für 10 vergessene Sachen nochmal nach Hause zu fahren. Jetzt sitze ich da. Im Schlafanzug zwar, aber ohne Radschuhe. Notiz an mich selbst: Auch Offensichtliches und eigentlich Selbstverständliches gehört auf die Packliste und eine scheinbar auswendig gelernte Packliste sollte ebenso kontrolliert werden. Scheinbar habe ich aus der vergessenen Regenjacke letztes Jahr nur wenig gelernt.
Meine Nervosität hat mich wieder fest im Würgegriff. Was mache ich jetzt ohne Radschuhe? Zwar habe ich Pedale, mit denen ich auch mit „normalen“ Schuhen fahren könnte, doch bei einer Strecke von 400 km sollte alles passen, was im Vorfeld passen kann. Meine „Klickies“ bin ich einfach gewohnt.
Ich frage das Internet. Auf das Internet ist ja sonst auch immer Verlass. Ich tippe bei Google ein: „Was soll ich machen, wenn ich meine Radschuhe vergessen habe und auch sonst ein einigermaßen verballerter und aufgeregter Holzkopf bin?” Die Suche ergibt 0 Treffer. Blöd. Ich versuche es in der Facebook-Gruppe der Berliner Randonneure und schildere mein Dilemma. 10 Minuten später, um 0:40 Uhr, habe ich eine Zusage von jemand, der mir morgen Schuhe in meiner Größe mitbringt. Lang lebe das Internet. Lang lebe Gerhard!
Die Hilfsbereitschaft, die ich unter Rad fahrenden Menschen erfahre, begeistert mich immer wieder. Besonders hier unter den Berlinern. 1:00 Uhr. Schlaf? Probieren kann man es ja mal. 4 Stunden später klingelt mein Wecker.
Mein Zimmergenosse ist tatsächlich auch als Radfahrer hier. Als wir uns als solche voreinander outen, gebe ich ihm im Affekt ein high five und weiß im nächsten Moment nicht, warum ich das gemacht habe. Ich bin wohl noch nicht ganz wach. Wie automatisch spule ich mein Morgenprogramm herunter: Zähne putzen, was nach Radbekleidung aussieht anziehen, den Rest der Sachen in den Rucksack stopfen, nichts im Zimmer vergessen. 10 Minuten später stehe ich im Aufenthaltsraum. Andere Menschen in engen Hosen sind auch schon hier und warten. Die Stimmung ist locker und unverkrampft. Hier bin ich schon mal nicht falsch.
Kaffee. Ahh! Noch einen hinterher. Und noch einen. Eintragen in die Starterliste.
Da ist ja Daniel. Mein Radfreund aus München. Auch er will die südlichen Berge dieses Jahr vermeiden. Er hat Radfreunde in Berlin. Radfreunde in Berlin: „Das brauche ich auch“, denke ich.
Ich erkundige mich nach dem Frühstück. Insgeheim befürchte ich, dass dieses erst dann beginnt, wenn ich schon auf dem Sattel sitze. Um 7 Uhr geht es los. Ich bin in Startgruppe eins. Die „locals“ haben sich Frühstück mitgebracht. „Bist du nicht Jo Leitenmeier?“ Jemand erkennt mich. Er heißt Alexander. Er spricht mich lobend auf meinen Blog an. Ich fühle mich sehr geschmeichelt. Alexander ist der Chef des Amstelhouse und Mitfahrer zugleich. Besagte Personalunion erklärt das Frühstücksbuffet exklusiv für mich frühzeitig als eröffnet und dient damit als weiteres glühendes Beispiel für die Hilfsbereitschaft, die mit hier entgegenschwappt. Danke! Danke!
Während ich Nutellabrote verputze, schnappe ich ein Gespräch hinter mir auf, in dem es um „vergessene Schuhe“ von „einem aus München“ geht. Ich glaube, hier geht es um mich. Meine Schuhe sind da. Als ich feststelle, dass Gerhard, mein Mensch des Tages, mit seiner Cap vom Hansegravel gar nicht selbst mitfährt, sondern extra für mich den Weg zum Amstelhouse gemacht hat, um mir um 6:30 Uhr morgens seine Schuhe auszuborgen, bin ich beinahe zu Tränen gerührt. Wo bin ich hier schon wieder gelandet?
Oh Mann! Was wird das hier eigentlich für ein meterlanger Brevet-Bericht? Noch ehe es losgeht, ist schon so vieles passiert. Dafür lässt sich die Fahrt vielleicht einigermaßen knapp halten:
Der Start erwischt mich kalt. Plötzlich geht es schon los. Kilometer für Kilometer geht es raus aus Berlin, hinein ins flache Land. „Brandenburg“ von Rainald Grebe ist der Ohrwurm meines restlichen Tages. Mein Garmin denkt, es sei in Bayern und stößt erst nach 7 Kilometern dazu. Ich bin froh, dass ich andere Fahrer zum Hinterherfahren habe. Ich halte mich sowieso gern im Windschatten der anderen Fahrer auf. Schweigend drückt sich die Gruppe über die langen geraden Straßen und wechselt sich ab. Als ich an der Reihe bin, vorne zu fahren, will ich nicht schneckenhaft dastehen und gebe Stoff, bis meine Schenkel brennen. Beim Blick zurück stelle ich fest: Ich bin alleine. Gut gemeint, etwas zu gut gemacht.
Ich finde immer wieder Mitfahrer und verliere sie wieder. Mein optimales Tempo fährt hier niemand. Die meisten ziehen an mir vorbei. Ich fahre heute wohl die meiste Zeit alleine. Ist mir recht. So habe ich mehr Zeit, um in die Landschaft zu blicken. Die ist ganz anders als die, die ich sonst so vor der Nase habe.
An einer Tankstelle opfere ich den Windschatten eines breiten Kreuzes, der geeignet wäre, um stundenlang darin zu verweilen. Doch ich brauche dringend einen Stopp. Daniel und seine Gruppe sind auch hier. Die Wurst sei gut.
Zum Kaffee und den zwei belegten Schrippen bitte ich auch um einen Streifen Alufolie. Meine Leihschuhe sind viel winddurchlässiger als meine eigenen und meine Zehen spüre ich schon seit 20 Kilometern nicht mehr. 9 Grad im Mai ist saumäßig kalt.
Mit in Alufolie gewickelten Kartoffelfüßen und noch mit dem Kaffee in der Hand rolle ich weiter. Stehenbleiben macht kalt. Nieselregen und Gegenwind und so. Alles gar nicht soo super.
Ich rolle unauffällig hinter einem Randonneur her – bis zur ersten Fähre über die Elbe. Dass Fähren zur Route gehören, finde ich super. Mal etwas anderes. Statt der Berge gibt es hier eben Fähren. Da tausche ich doch gerne.Auf der Fähre stelle ich die Cleats an meinen Schuhen tiefer ein. Ich habe immer noch taube Zehen und ich habe nicht nur die Kälte im Verdacht. Die nächsten Kilometer sollen besser rollen, wenn auch nicht optimal. Man kann nicht alles haben.
Das Wetter bleibt mies und auch die Motivation pendelt zwischen „so mittel“ und der Frage, was der Mist eigentlich soll. Ich denke an Aufgeben und an Durchziehen. Währenddessen fahre ich weiter und weiter.
Ein „Getränkeuniversum“ hat vor 10 Minuten geschlossen. Schade. Ich habe große Lust auf Zuckerwasser. Eine nächste Versorgungsmöglichkeit kommt bestimmt bald – hoffe ich. Ganz schön verlassen das alles hier.
Da hinten sind Störche. Dort die Elbe. Hier verlief einst die innerdeutsche Grenze. Der Wachturm steht noch. Gänsehaut-Moment. Es ist nicht nur die Kälte. Ich komme gleich an die nächste Elbfähre. Hier ist die erste „freie“ Kontrolle. Im Grenzlandmuseum finde ich einen Stempel für meine Brevetkarte. 163 km sind geschafft. Gerne würde ich das Museum besichtigen, doch ich habe noch etwas Weg vor mir.
Jetzt bin ich in Niedersachsen. Hier ist es genauso flach. Mein Ohrwurm bleibt derselbe.
Pflastersteine, Backsteine, Schotter, Asphalt, aufgetunte Golfs, Landstraße. Endlich ein Aldi. Ich lade auf, was geht. Trinke den Rest der riesigen Cola, der nicht in meine Flaschen passt, auf Ex aus. Buuhja! Endlich geht es mir wieder normal. Ich bin zurück in meinem vertrauten Langstreckengefühl. Der Nieselregen hat auch aufgehört. Ich grinse über beide Ohren und pedaliere.
Daniel und seine Gruppe holen mich ein. Ich versuche mitzuhalten. Die jungen Menschen sind mir zu schnell. 200 Kilometer. Halbzeit. Es geht mir prächtig.
Ich rechne hoch, wie gut oder schlecht ich in der Zeit liege und stelle erfreut fest, dass ich, im Vergleich zu sonst, super schnell bin. Wenn das so weitergeht, bin ich in etwa 7 Stunden vor meiner geplanten Ankunft wieder zurück in Berlin.
Der Rest der Tour verfließt im Strom der Eindrücke. Ein Hoch folgt einem Tief und ein Tief folgt einem Hoch. Die Landschaft bleibt flach. Ich erinnere mich nur noch daran, dass es auf der Mecklenburgischen Seenplatte sehr schön gewesen ist. Schöner, als die zwei anderen Drittel der Strecke zuvor.
Wind, Wind und nochmals Wind. Und lange gerade Straßen gegen den Wind. Man, das zerrt an den Nerven. Ich habe das Gefühl, ich stehe. Mein Schuhspender taucht plötzlich wieder auf. Gerhard macht die zweite Kontrollstelle. Oder war es schon die Dritte? Keine Ahnung. Alles vergessen.
Ab jetzt beginnt die Dämmerung. Die Abendsonne tankt meinen zeitweiligen Mitfahrer und mich noch mit ein paar wenigen Sonnenstrahlen auf, bevor es in die Nacht geht. Mein Mitfahrer fährt davon und ich bin auf mich alleine gestellt. Jetzt beginnt das Duell mit den Hügeln. Enden wollen die auch nicht, oder? Egal, wie weit hinein oder heraus ich auf meiner Karte zoome: Die Strecke vor mir bleibt ein gerader Strich.
Die letzte Kontrolle. Tankstelle. Wahllos greife ich in die Regale. Wähle die Nummer meiner Freundin. Wo bist du gerade? Noch 70 Kilometer. Schön war es bis hierher. Die Verkäuferin bittet mich mit dem Telefonieren aufzuhören. Geht’s noch? Ich trete weiter.
Irgendwann kommt beinahe der Zusammenbruch. Ich bin so müde plötzlich. Mein Wasser ist auch leer. Was ist das hier für ein gottverlassener Wald? Sind wir nicht schon lange in Berlin? Trotzdem dieser nicht enden wollende Wald. Aufhören ist jetzt keine Option mehr (war es nie). Ich schütte eine halbe Tüte Nüsse in meinen Mund. Das Ding wird jetzt gefälligst fertig gefahren.
Wird es auch. Was für eine schwere und schöne Geburt. Hätte ich mir doch mehr Zeit gelassen. Einfahrt am Amstelhouse um 3:10 Uhr. Nach guten 15 Stunden habe ich 400 Kilometer fertig gefahren. In Bayern habe ich für 100 Kilometer weniger die gleiche Zeit gebraucht.
Am Ziel gibt es Lasagne und Bier. Austausch und Gebrabbel obendrein. Duschen darf ich auch. Um 6 Uhr morgens klingle ich meine Übernachtungsmöglichkeit aus dem Bett. Ich schlafe 10 Stunden, bis in den Nachmittag.
Dann gehe ich vor die Türe, esse einen großen gemischten Grillteller und kehre in mein Gästebett zurück. Ich schlafe weitere 10 Stunden.
Unter die Non-Stop-Langstrecken mache ich vorerst mal einen Strich. Zumindest für dieses Jahr. Lieber möchte ich verschiedene Ausfahrten mit Übernachtung im Freien genießen. Zum Beispiel beim Eifel-Graveler im August. Die menschliche Seite, die Geschichten jenseits der Fahrten selbst und die Hilfsbereitschaft bei den Brevets hat mich irgendwie sehr viel mehr begeistert als die vielen Kilometer an sich.
Ich liebe es, lange Strecken zu fahren. Gerne auch mit wenigen Pausen dazwischen. Diese Fahren sind mir eine innere Reinigung und mein Ausgleich. Doch mich dabei einer festen Strecke und einem festen Termin zu verpflichten, muss ich nicht haben. Da liefere ich lieber ein paar eBay-Pakete mit dem Rad aus oder fahre zu irgendeiner großen Stadt in Europa. Wien soll ja schön sein. Oder Göteborg.
Klar werde ich auch wieder Brevets fahren. Doch werde ich nicht mehr derjenige sein, der am ersten Tag der Online-Anmeldung stündlich die Anmeldeseite aktualisiert, um sich verbissen einen Startplatz zu sichern. Dringend dabei sein? Können andere machen …
Ausgezeichnet erfasst, die Brandenburger Leere mit ihren Randonneuren, die nie ein passendes Tempo fahren. Warum kommt jemand hierher für ein Brevet? Gerade habe ich das vielleicht ein bißchen verstanden. Danke!
http://ultralightcycling.blogspot.com/p/equipment-reviews_12.html
Runterrollen bis “Crocs”
Bravo! Hatte eigentlich gehofft dass wir beim 600er in München bisschen fahren können..
Wieder mal sehr schön geschrieben. Der Motivation lange Strecken zu fahren kann ich nur zustimmen. Ich freue mich dir mal in echt Hallo zu sagen. Bin auch beim Eiffelgraveler im August.
Danke Christian! Ich freu mich schon auf die Eifel und dir Hallo zurück zu sagen.. Liebe Grüße aus dem verregneten München.
Sehr schöner Bericht. Ich frage mich gerade ob ich so etwas auch einmal machen möchte, sicher bin ich mir nicht, spannend wäre es aber allemal. Ich fahre gerne Mehrtagestouren, dabei eigentlich nie mehr als 150km am Tage, dafür aber dann 6-7 Tage hintereinander.
Naja mal sehen was noch kommt 🙂